Freitag, 9. Januar 2009

Auf dem Dampfer

Am frühen Sonntagnachmittag ist das Oberdeck auf der Fähre von Eminönü nach Kadiköy auf der anatolischen Seite Istanbuls voll besetzt. Es ist ein sonniger, noch warmer Tag. Die auf den weiß bestrichenen Holzbänken sitzenden Menschen warten auf die Abfahrt der ehemaligen Dampfer, die schon seit Jahren nicht mehr mit Kohle angetrieben werden. Junge Ehefrauen mit Kopftüchern wiegen ihre Kinder im Schosz; die Ehemänner kaufen Tee in kleinen Tulpengläsern, die die ihre Ware laut anpreisend herumgehenden Kellner auf runde Aluminiumtabletts gestellt haben. Ein Vater zeigt seinem Sohn etwas über ihren Köpfen. Über der hellen Plastikplane, die über das Deck gespannt ist, bewegt sich etwas: zwei kleine Flecken in Rhomben-Form. Sie sehen aus wie Blätter im Wind oder zwei nebeneinander fliegende Schmetterlinge, die sich kurz niederlassen, wieder hochflattern und sich gleich darauf wieder niederlassen. Es sind die Füße von Möwen, die über die Plane spazieren. Als sich die Fähre langsam und tuckernd in Bewegung setzt, bleiben die Vögel auf dem Schiff stehen. Der Wind zerzaust ihre Flaumfedern.
Die Fähren über den Bosporus, die den europäischen mit dem anatolischen Teil Istanbuls verbinden. Manche von ihnen sind 50 Jahre alt, und viele von ihnen sehen noch älter aus. Doch sind sie keine Nostalgie-Dampfer für Touristen sondern öffentliche Verkehrsmittel, die den zur Arbeit Fahrenden die tägliche Warterei vor der Bosporus-Brücke ersparen, wo sich nicht nur am Morgen und am Nachmittag die Autos und Autobusse stauen. So ändert sich die Atmosphäre auf den Fähren je nach Tageszeit. Die Ruhe in der Früh und am Vormittag ist eine andere als die am Abend. In der Früh lesen Männer in Anzügen teetrinkend die Zeitung, die sie auf dem Weg zur Anlegestelle gekauft haben; führen Frauen mit sorgfältig geschminktem Gesicht und modischem Haarschnitt Telefongespräche über ihr Handy; bereiten sich Studenten mit Büchern auf ihren Knien auf ihre Vorlesungen vor. Am Abend ist die Müdigkeit in den Gesichtern der Reisenden zu sehen. Manche unterhalten sich träge untereinander, manche schauen mit stumpfem Blick in die Dunkelheit des Meeres. Die meisten sitzen im geheizten Innenraum, aber einige haben auf den Bänken längs des Unterdecks Platz genommen, nur knapp über den Wellen, die das Schiff in das Wasser pflügt und rauchen dort eine Zigarette, auch wenn es mittlerweile offiziell verboten ist. Nach zehn oder mehr Stunden Arbeit kehren sie auf die anatolische Seite zurück, einige von ihnen haben noch eine stundenlange Busfahrt vor sich in eine der eilig hochgezogenen Wohnsiedlungen auf den Hügeln südlich des Bosporus.
Noch bevor der Dampfer beim alten Bahnhof in Haydarpasa anlegt, stehen die Menschen schon ungeduldig vor der Reling. Das Schiff wird langsamer, der Länge nach steuert es auf die Anlegestelle zu, die Stehenden wanken, suchen ihr Gleichgewicht nicht zu verlieren. Der Vertäuer wartet schon am Ufer, um das dicke Seil aufzufangen, das ihm vom Dampfer aus zugeworfen wird. Kaum hat er das Tau zwei-, dreimal um einen der Poller gewickelt, schon springt ein Passagier mit einem großen Satz über die Bordkante auf die Anlegestelle. Er hat es eilig, vielleicht muss er einen Zug erreichen. Das Schiff ist noch nicht zur Ruhe gekommen, das Heck dreht sich ein wenig zur Meeresseite. Das Seil spannt sich, knirscht. Der Vertäuer zurrt es mit geübten schnellen Bewegungen fest; ein anderer Mann schiebt zwei hölzerne Stege über die Bordkante. In Zweierreihen drängen die Menschen über den Steg, schieben sich in kleinen Schritten dem Ufer entgegen, rempeln einander, hasten schließlich – sobald sie festen Boden unter den Füßen haben – in einem breiten Strom davon.
Vor den Glastüren der Anlegestelle wiederum hat sich die nächste Menschentraube gebildet. Aneinandergepresst warten die Passagiere, bis die Aussteigenden das Schiff verlassen haben. Für das Gedränge gibt es keinen Grund; die Fähre bietet Platz für alle, keiner würde zurückgelassen werden. Dennoch treten die Menschen vor der Tür von einem Fuß auf den anderen, Minuten bevor die Fähre überhaupt noch angelegt hat. Kaum haben die einen den Dampfer verlassen, schon gehen für die anderen die Türen auf. Die Arbeiter der Anlegestelle schieben mit einem kräftigen Ruck die schweren Glastore zur Seite; die Menschen strömen auf das Schiff zu, schieben einander über die Holzstege, hasten die Stufen zum Oberdeck empor oder lassen sich auf die Bänke im überhitzten Innenraum fallen. Ein paar Zuspätkommende laufen über den Aufenthaltsraum auf die Türen zu; ein Arbeiter hält ein Tor einen Spalt breit offen, um die letzten Passagiere aus dem Gebäude auf die Fähre zu lassen. Dann werden die Holzstege wieder zurückgezogen, die Taue gelöst. Dröhnend schiebt sich der Dampfer vom Ufer weg. Vor der kleinen Schiffsbar bilden sich von Neuem Schlangen von Kunden. Von Neuem wird hinter der Theke heißes Wasser in die riesigen kupferfarbenen Teekessel gefüllt.

Montag, 5. Januar 2009

Unter Wasser

„Na seawas, es pisst ja ordentlich draußen“, denke ich, als ich mitten in der Nacht aufwache. Zufrieden ziehe ich meine warme Bettdecke enger um mich und schlafe wieder ein. In der Früh regnet es noch immer so stark. Seltsam nah ist das Geräusch. Ich gehe in die Küche. Und merke, dass es nicht der Regen war, den ich gehört habe. Das Wasser ist drinnen. Es schießt mit vollem Strahl unter der Abwasch hervor, es fließt ungehemmt auf den Holzboden, es hat die Küche unter Wasser gesetzt. Ich versuche, die geplatzte Wasserleitung irgendwie zu fixieren, der nicht zu bändigende Metallschlauch spritzt mich von oben bis unten voll. Wo ist bloß der Hahn, um das Wasser abzusperren? Im durchnässten Nachthemd renne ich vor die Tür, drehe am Hahn. Das Wasser lässt sich nicht abwürgen. Ich renne wieder in die Wohnung, streife mir eine Hose über und klopfe an die Tür der einen, dann der anderen Nachbarn. Ist es der wirre Blick, das nasse Haar, die seltsame Kombination aus Hose und Nachthemd? Oder schlafen noch alle? Niemand öffnet, niemand hilft.
Schließlich gelingt es mir, den Wasserhahn zuzudrehen. Ich versuche, Kubikliter von Wasser vom Holzboden aufzuwischen. Auf einmal klopft es an der Tür. Eine Nachbarin erzählt etwas von Wasser. Ich weiß, gebe ich ihr zu verstehen und zeige auf mein Wasser. Dann gehe ich mit ihr nach unten. Zentimetertief steht der Gang unter Wasser, es fließt die Wände des Kellers entlang, der sich unter meiner Wohnung befindet. Wenigstens habe ich keine weitere Wohnung unter Wasser gesetzt. „Allah Allah“, jammert die Nachbarin, und ich jammere in gebrochenem Türkisch mit. Ob ich beim Aufräumen helfen kann? Sie macht eine abweisende Handbewegung. Ist schon gut, ich soll mich um meine Überschwemmung kümmern.
Bis der Klempner kommt, dauert es nicht einmal sieben Stunden. Ich sitze vor dem Heizkörper – habe ich schon erwähnt, dass diese wunderschöne alte Wohnung mit ihren hohen Räumen verdammt schlecht zu heizen ist? – und höre dem Wasser beim In-den-Eimer-tropfen zu. Der Klempner also kommt mit seinem kaum 17-jährigen Gehilfen, kratzt sich am Kopf und ortet ein Problem. Dann lässt er seinen Assistenten unter die Spüle kriechen. Für seinen klobigen Körper wäre nicht Platz genug. Er raucht eine Zigarette und gibt seinem Lehrling Anweisungen. Das Verbindungsstück in der Wasserleitung sei schlechte Qualität gewesen, sagt er. Aus China. Aha. Und was kümmert mich das? Ich bin erst vor einem Monat eingezogen, die Wohnung ist zuvor komplett renoviert worden, die Leitungen waren neu. Aber er, erklärt mir der Klempner, verwendet türkisches Material. Aha. Und wann platzt diese Leitung? will ich wissen. Ach Mädchen, sagt er und klopft mir auf die Schulter. Wenn du mit dem Auto unterwegs bist, dann kann ja auch ein Unfall passieren. Wer weiß schon, was sein kann… Diese Kismet-Sache, dieses Was-kommen-soll-kommt-eben, kann ziemlich auf die Nerven gehen. Macht eure Arbeit ordentlich, verwendet kein schlechtes Material – es geht hier nicht um Kismet sondern um Pfusch, würde ich am liebsten entgegnen. Doch dafür reicht mein Türkisch nicht aus. Also lächle ich wie gottergeben.

Dienstag, 9. Dezember 2008

Blutiges Fest

Die Türglocke in Ayses Wohnung klingelt schon wieder. Die fünfzehnjährige Tochter macht die Tür auf, nimmt von der Nachbarin ein Päckchen entgegen, tauscht mit ihr Glückwünsche aus. Zuvor waren ein paar Cousins zu Besuch, Ayses Schwester ist ebenso vorbeigekommen, die Nichten und Neffen waren ebenfalls da. Es ist Kurban Bayram, das Opferfest zur Erinnerung daran, dass Gott den gläubigen Abraham daran gehindert hat, dessen Sohn Isaak zu opfern. Vier Tage lang wird dies gefeiert, und Millionen von Türken machen sich auf die Reise, um ihre Familien zu besuchen.
Es ist auch ein blutiges Fest. Muslime, die es sich leisten können, müssen ein Tier opfern und das Fleisch an Bedürftige verteilen. „Es sind meist arme Leute aus der Umgebung“, erklärt Mahmut. „Sie holen sich das Fleisch dann ab. Oder du kannst es auch in der Moschee abgeben, die es dann verteilt.“ Mahmut hat Internationale Beziehungen studiert – unter anderem in Polen – und besucht jetzt ein Koranseminar in Istanbul. Nein, lacht er, er wolle kein Imam werden. Aber er möchte Arabisch lernen und dann vielleicht Diplomat werden. Während er das erzählt, haucht er immer wieder in seine Hände, um sie in der aufziehenden Abendkälte aufzuwärmen. Seit zehn am Vormittag sitzt er an einem kleinen Tisch vor der Moschee im Istanbuler Stadtviertel Tepebasi und führt Buch über die geschlachteten Schafe. An die hundert waren es heute. Auch Kühe werden geopfert, aber die hätten in dem kleinen Schlachtraum neben der Moschee keinen Platz.
In dem weiß gekachelten Raum sind ein paar Männer in grünen Plastikumhängen und Gummistiefeln seit Stunden damit beschäftigt, Schafen die Kehle durchzuschneiden, die Tiere zu häuten und grob zu zerlegen. Immer wieder spritzen sie den Boden mit Wasser ab, kehren das Blut in eine Rinne in der Mitte des Raums.
„Freunde, jeweils nur fünf sollen sich anstellen“, schreit jemand. „Es gibt eine Reihenfolge einzuhalten.“ Vor der Tür drängen sich die Menschen und mühen sich, die zuvor auf Märkten gekauften und nun an Stricken gehaltenen Schafe zu beruhigen. Es ist kein Blöken zu hören, obwohl die Tiere das Blut spüren.
Im Innenhof der Moschee wird das Fleisch zerteilt, und die Menschen tragen es in großen schwarzen Plastiksäcken davon. In Scheibtruhen werden Überreste wie Hufe oder Fellstücke zu den bereitgestellten Müllcontainern gekarrt.
Nicht überall werden die staatlich geregelten Vorschriften zur Schlachtung eingehalten. Statt in dafür vorgesehenen Räumen wird auch in Gärten, auf Feldern, in Parks, sogar auf Kinderspielplätzen geschlachtet. Trotz der riesigen Plastikplanen, die ausgebreitet werden, färbt sich die Erde rot. Jedes Jahr mahnen Zeitungen ihre Leser, kleine Kinder bei der Opferung nicht zusehen zu lassen – und bringen dann Bilder von Sechs-, Siebenjährigen, die entsetzt die Augen abwenden. Jahr für Jahr landen tausende Ungeübte im Krankenhaus, weil sie sich bei ihren Schlachtversuchen selbst verletzt haben.
Als der Muezzingesang zum Abendgebet erklingt, ist das Schlachten neben der Moschee in Tepebasi vorbei. Ein Mann spritzt mit einem Wasserschlauch die letzten Blutreste vom Gehsteig.

Montag, 8. Dezember 2008

Der Kuehlschrank im Salon

Es ist ja nicht so, dass wenn du eine möblierte und bezugsfertige Wohnung mietest, du tatsächlich einziehen kannst. Du darfst Miete und Kaution zahlen, das ja – und im Voraus. Aber es sind noch ein paar Dinge zu erledigen. Kleinigkeiten, wie die Maklerin versichert. Da wären etwa Strom und Gas anzumelden. Du gehst also mit deinem Mietvertrag und etlichen anderen Dokumenten zur Gasstelle und stellst dich auf Warten ein. Wie überall – ob auf Banken, an Bushaltestellen, in Behörden, sogar vor Bankomaten, von denen es an jeder Ecke einen gibt – stellen sich die Türken geduldig und recht geordnet an. Wer sich vordrängen will, wird zurechtgewiesen.
In der Gasstelle ziehe ich also aus einem Automaten eine Nummer: 326. Die kleinen Anzeigen über den Glastüren, hinter denen die Beamten sitzen, zeigen 201, 206 und 203 an. Nach einer Stunde werden alle Menschen aus dem Gebäude gebeten. Es ist Mittagspause, wir sollen in einer Stunde wiederkommen. Die Menschen strömen aus dem Haus, gehen Einkaufen oder ins nächste Kaffeehaus, warten vor der Tür auf neuerlichen Einlass. Nach drei Stunden neuerlichen Wartens habe ich meinen Gasvertrag – und bekomme den Gaszähler in die Hand gedrückt. Den solle ich nach Hause tragen, sagt ein freundlicher Mann. Etwas verzagt versuche ich herauszufinden, ob ich das Gas selbst anschließen muss. Nein, das wird erledigt. Wann? Der Mann lächelt freundlich.
Der Stromvertrag ist ein Klacks dagegen. Darauf brauche ich nur zwei Stunden zu warten.
In der Wohnung stelle ich fest, dass das fehlende Glas in einem Fenster noch immer nicht eingesetzt ist. Stattdessen fehlt nun auch ein Glas im Wohnzimmer. Ach, das werden wohl die Arbeiter zum Auswechseln mitgenommen haben, meint die Maklerin am Telefon. Werden sie wohl.
Zwei Tage später ist das Fenster noch immer nicht da. Aber das Gas wird angeschlossen. Sehr schnell ging das: Kurz war ich weg zum Einkaufen, komme zurück und stelle fest, dass jemand in der Wohnung war. Der Kühlschrank nämlich steht auf einmal im Wohnzimmer. Als sie das Gas angeschlossen haben, mussten sie anscheinend hinter dem Kühlschrank etwas richten und haben diesen in den Salon verfrachtet. Sogar angeschlossen haben sie ihn dort, was ich sehr aufmerksam finde.
Angeschlossen ist nun auch das Wasser in der Küche. Doch es tropft.
Einen Tag später ist auch das Glas eingesetzt. Doch in einem Fenster klafft ein Spalt von einem halben Zentimeter zwischen Glas und Rahmen.
Störend ist auch der zentimeterbreite Spalt zwischen den Flügeln der wunderschönen hölzernen Eingangstür, wo eine Leiste fehlt. Von mir aus sollen die Nachbarn reinsehen können, aber die Dezemberkälte, die ungehindert reinströmt, ist unangenehm. Vor allem weil seit Tagen das Glas im Hauseingang fehlt – weggebracht zu Service-Zwecken, wie es hieß.
Der Maklerin schicke ich nur noch SMS. Weder will ich mit ihr reden, noch sie mit mir. Die Arbeiter werden schon kommen, schreibt sie. Wohl nach den Feiertagen zum Opferfest. Dieses dauert ja nur eine Woche.

Samstag, 6. Dezember 2008

Auf Wohnungssuche

Das ist ja ganz einfach, sagen meine türkischen Bekannten. Wenn du eine Wohnung finden willst, dann brauchst du nur durch die Gegend gehen und auf die Fenster schauen. Dort sind immer wieder Zettel angeklebt, mit dem Text „Zu vermieten“ und einer Telefonnummer. Du rufst an und lässt dir die Wohnung zeigen.
Klappt bei mir aber irgendwie nicht. Also verlege ich mich wieder auf die Suche im Internet und komme dabei um diese Immobilienmakler nicht herum, die von mir eine ganze Monatsmiete verlangen werden, bloß weil sie mich in ein Haus führen und die Wohnung aufsperren.
Wohnung 1 liegt im fünften Stock und ist über eine metallene Wendeltreppe erreichbar. Im Vergleich zu diesem Stiegenhaus wirken die Feuerleitern an den Außenwänden der Häuser wie solidestes Bauwerk. Die Aussicht auf den Bosporus aber ist überwältigend. Nur ist es schwierig auf dem Balkon zu stehen, weil dieser nach vorne kippt.
Wohnung 2 ist groß und hell, neu renoviert und hat zwei Zimmer. Aber es hat sie gerade ein Deutscher gemietet. Wozu er mir sie dann zeige, frage ich den gesprächigen Makler. Weil in dem Haus noch etwas frei ist.
Wohnung 3 aber ist noch nicht fertig. Es soll ein ausgebautes Dachgeschoss werden. Wo ist denn das Klo? Ja, wo denn – der Makler gibt die Frage an den Handwerker weiter. Unter einer Dachschräge wurde ein kleines Plätzchen geschaffen, in das du nur gebückt reinschlüpfen kannst. Stehen ist nicht möglich. Auch für eine Dusche sind die Räume nicht hoch genug. Dafür soll ein Yacuzi ins Schlafzimmer kommen.
Wohnung 4 ist ebenfalls neu renoviert. Nur ist es das einzige renovierte Haus in der engen dunklen Gasse. Rundherum wunderschöne aber völlig verfallene und – auf den ersten Blick – unbewohnte Jahrhundertwendehäuser. In der Nacht sollte ich lieber mit dem Taxi heimkommen, rät der Makler.
Wohnung 5 ist zu teuer, Wohnung 6 zu klein (und zu teuer), die Möbel in Wohnung 7 sind so hässlich wie Billigmöbel aus den 80er-Jahren nun mal sind.
Gut, vielleicht soll es nicht Beyoglu auf der europäischen Seite sein, denke ich und versuche es in Kadiköy auf der anatolischen Seite. Die Mieten dort sollen sowieso niedriger sein.
In dem alten Haus, wo mir der 70-jährige Besitzer Wohnung 8 und 9 zeigt, gibt es keine Heizung. Wäre vielleicht nicht so ein Problem, aber die Wohnungen sind völlig verdreckt. Wir sitzen noch ein wenig zusammen, trinken Kaffee, er klagt mir sein Leid als Wohnungsbesitzer und küsst mich dann auf beide Wangen. Er hätte mich so gerne als Mieterin, sagt er zum Abschied.
Wohnung 10 ist bis an die Decke jedes einzelnen Zimmers mit Krempel angeräumt. Alte Radios, ausgemustertes Gewand, ungebrauchte Möbel, Polster, kaputtes Spielzeug: Alles stapelt sich in den drei kleinen Räumen. Wenn ich etwas nicht brauche, könne es der Besitzer ja wegnehmen, sagt die Maklerin. Ich brauche gar nichts davon.
Gut, vielleicht doch wieder Beyoglu.
Wohnung 11, 12 und 13: zu teuer, zu klein, zu grindig. Klar, für 1500 Euro kannst du tolle Wohnungen in Istanbul bekommen. Aber ich bin nun einmal kein Geschäftsmann, dessen Firma die Dienstwohnung mit Terasse und Meerblick bezahlt. Dennoch bin auch ich eine Ausländerin. Und Ausländer hätten nun mal Geld, das es ihnen abzuknöpfen gilt, ist die häufige Annahme.
Wohnung 14 bis 17: nothing to write home about.
Wohnung 18: wunderschöne hohe Räume, neue Küche, Parkettboden, zwei kleine Balkone mit Blick auf Halic, das Goldene Horn, drei Zimmer. Wenn ich groß bin, will ich so eine Wohnung. Jetzt aber ist mein Budget zu klein.
Wohnung 19 sehe ich mir zwei Mal an, das zweite Mal mit E. Als wir in die nächste kleine Gasse einbiegen, sagt sie: Nein. In diese Gegend solltest du nicht ziehen. Das Viertel sei nicht unbedingt sicher. Doch die Wohnung lässt mir keine Ruhe. Ebenfalls hohe Räume, alte im Original belassene Holztüren, Parkettboden, genug Platz für mich und Gäste, nur wenige, dafür brauch- und ansehbare Möbel.
Wohnung 20 ist nett und freundlich, doch Wohnung 19 wartet.
An Wohnung 21 habe ich auch etwas auszusetzen. Der Makler ruft an, dass Wohnung 19 etwas billiger zu haben ist. Ich zögere noch und schaue mir Wohnung 22 an.
Und dann rufe ich den Makler an. Ich will sie, ich nehme sie. Doch auch mit Wohnung 19 wird nicht alles ganz einfach.

Montag, 10. November 2008

Das Amt fuer Auslaender

Das Ausländeramt ist in einem hässlichen langgezogenen sechsstöckigen Betonbunker untergebracht. Gleich daneben steht eine andere Behörde. „Ich liebe mein Land, ich zahle meine Steuer“, ist auf einem riesigen Schild über dem Eingang zu lesen. Muss wohl das Finanzamt sein. Ich aber habe im Moment andere Sorgen. Ich habe mir in den Kopf gesetzt, meinen Aufenthaltsstatus in der Türkei zu legalisieren und eine Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen. Was im Endeffekt wieder bedeutet: anstellen und warten. Noch bevor die Menschen zur Behörde vorgelassen werden, müssen sie in einem kleinen Raum ihre Pässe oder Personalausweise vorweisen. Eine Schlange gibt es für die türkischen Staatsbürger, eine für die Ausländer. Die drei Beamten hinter dem Pult notieren jeden Namen. Vorbeigelassen gehen die orientierungslosen Antragsteller über einen weiträumigen Innenhof und in die Behörde hinein.
Wer ausländisch ausschaut, wird vom gelangweilten Türsteher gleich in den ersten Stock gewinkt. Dort geht es zunächst zur Schlange vor der Information. Nicht wegen der Information, sondern weil dort die Nummern verteilt werden, die für das Warten vor dem nächsten Schalter notwendig sind. Als ich an der Reihe bin, schiebe ich dem Beamten hinter der Glaswand durch den Schlitz die Dokumente zu: ein Formular, ein anderes Formular, eine Kopie des Passes, eine Kopie des Visums, eine Bestätigung über vorhandene Geldmittel, eine Bestätigung über den Besuch des Sprachkurses, vier Passfotos. Und wo ist der Antrag, der Antrag auf Türkisch?, will der Mann wissen. Wie, um Gottes willen, soll ich einen Antrag auf eine Aufenthaltsgenehmigung auf Türkisch schreiben?, frage ich den Mann mehr mit Augen und Händen als mit der Zunge. Der Beamte seufzt. Er nimmt ein Stück Papier, schreibt zwei kurze Sätze darauf und lässt mich unterzeichnen. Ich unterschreibe und hoffe, dass es nicht gerade die Einwilligungserklärung für einen Eintritt in die Armee war. Danach soll ich mich am Kassenschalter anstellen (dort geht es am schnellsten) und mit der Quittung wiederkommen. Am nächsten Tag werde meine Aufenthaltsgenehmigung fertig sein.
Im Hintergrund klappern Tastaturen. Hinter den hinter der Glaswand sitzenden Beamten ist eine zweite Reihe mit Schreibtischen aufgestellt. Neben dem Computer haben die Menschen riesige aufgeschlagene Bücher liegen. Dort werden händisch die Namen der angemeldeten Ausländer eingetragen, deren Foto wird eingeklebt. Spalte um Spalte füllen die Beamten mit den Daten der Neuankömmlinge, blättern die Seite um und schreiben die nächsten Informationen auf. Wo werden diese Bücher aufbewahrt, wer kann etwas auf diesen Millionen von Seiten wieder finden?
Am nächsten Tag stelle ich mich vor dem Schalter an, an dem die fertig gestellten Aufenthaltsgenehmigungen ausgeteilt werden. Die Beamten sind gerade von der Mittagspause zurückgekommen. Sie setzen sich auf ihre Plätze, öffnen langsam die Schubladen des Tisches, nehmen die zuvor dort verstauten Kugelschreiber heraus und auch die Stempel, einen nach dem anderen und ohne Eile. Der jüngere Mann ordnet alles auf dem Schreibtisch, dann schaut er auf, lässt seinen Blick durch die Gesichter der Wartenden schweifen, zeigt einen Anflug von Lächeln. Na gut, gibt er zu verstehen: Wenn ihr unbedingt wollt, dann fangen wir an. Er sammelt die Zettel ein, die die Menschen an den Schaltern zuvor bekommen haben und auf denen die Wartenummer für die Aufenthaltsgenehmigung steht. Dann steht er auf, geht in einen Nebenraum, sucht in einem Ordner nach den Dokumenten. Mit einem Stapel Ausweise und Papiere kommt er zurück, setzt sich wieder, öffnet einen Ausweis. „Tadschikistan“, ruft er. Ein junger Mann schiebt sich nach vorne, nimmt seine Aufenthaltsgenehmigung entgegen, unterschreibt ein Papier, das dann mit drei verschiedenen Stempeln versehen wird. „Ukraine“, ruft der Beamte dann. Es folgen Usbekistan, noch mal Ukraine, Rumänien, Bulgarien… Und wo bleibt Österreich? Der Mann zuckt mit den Schultern: Ist wohl noch nicht fertig. Ich solle am nächsten Tag wiederkommen. Ein Engländer rät mir, es nicht wörtlich zu nehmen. Er spricht aus fünfjähriger Erfahrung, da er seine Aufenthaltsgenehmigung jedes Jahr erneuern muss.Nach einer Woche habe ich meine Aufenthaltsgenehmigung für ein halbes Jahr in der Hand. In erster Linie bedeutet das: Ich muss das Ausländeramt sechs Monate lang nicht betreten.

Donnerstag, 3. Juli 2008

Neun Euro für eine Information

"Freunde im Ausland?" Mein Mobilfunkanbieter hat mich durchschaut. Nach nur ein paar SMS über die Grenze hinaus hat er gleich per Kurzbotschaft nachgefragt, ob ich nicht an einem Angebot für billigere Telefonate in die Türkei interessiert wäre.
Ja, ich habe dort Freunde. Und würde ich mich damit begnügen, mit ihnen zu telefonieren, wäre alles kein Problem. Doch ich möchte sie nach Österreich einladen und mit ihnen ein paar Tage in Wien verbringen. Da hört sich der Spaß auf.
Zwar wollen die beiden keineswegs in Österreich bleiben und hier schwarz auf dem Bau arbeiten. A. ist Bankanalystin, O. EDV-Spezialist; an Hilfsarbeiterjobs im Ausland sind sie nicht interessiert. Doch das alles müssen sie den Österreichern nachweisen. Um ein Visum zu bekommen, das 60 bis 75 Euro kostet, brauchen sie neben gültigem Reisepass, Geburtsurkunde und einem Auszug aus dem Familienregister unter anderem:
* Nachweis der Unterkunft,
* Nachweis des Transportmittels,
* Arbeits- und Urlaubsbestätigung des Arbeitgebers,
* Lohnbestätigung und aktuellen Kontoauszug,
* Einladungsschreiben.
Nähere Informationen und eine Terminvergabe etwa bei der österreichischen Botschaft in Ankara sind dabei keinesfalls gratis. Da wird am Telefon nach der Begrüßung zunächst die Kreditkartennummer oder ein Pin-Code von der Bank verlangt. Neun Euro werden dann gleich einmal dem potenziellen Antragsteller für die Dienstleistungen des Callcenters abgezogen.
Mir als Einladender wird es auch nicht einfach gemacht. Für eine elektronische Verpflichtungserklärung für meine Gäste muss ich der Polizei Pass, Meldezettel und Lohnbestätigung vorlegen. Mit den Unterlagen marschiere ich also aufs Kommissariat. Dort stellt sich aber heraus, dass ich ebenso meinen Mietvertrag vorzeigen muss. Schließlich gehört auch notiert, auf wieviel Quadratmetern ich wohne und was ich dafür bezahle. Also marschiere ich noch einmal aufs Kommissariat, damit das ebenfalls erledigt wird. Eine Garantie, dass meine Freunde ihr Zehn-Tages-Visum bekommen, gibt es freilich nicht.
*
Da es jetzt total in Mode ist, offene Briefe zu verfassen, könnten die beiden den anderen Dokumenten folgendes Schreiben beifügen:
"Sehr geehrte österreichische Bundesregierung!
Uns türkischen Staatsbürgern ist bewusst, dass Sie auf die Befürchtungen der Bevölkerung in Ihrem Land Rücksicht nehmen. Doch wir möchten nicht nach Österreich reisen, um den Menschen dort die Arbeitsplätze wegzunehmen oder die islamische Kultur zu verbreiten. Wir möchten dort nicht einmal länger als zehn Tage bleiben, sondern einfach nur Urlaub machen und etwas von unserem in der Türkei verdientem Geld dortlassen.
Warum aber behandeln die EU-Staaten – denn die Anforderungen für Visa in andere Länder sind ähnlich – Ausländer aus Nicht-EU-Staaten als potenzielle Schwarzarbeiter oder Kriminelle? Warum wird die von der EU theoretisch so hochgeschätzte Mobilität uns so schwer gemacht? Warum schottet sich Europa derart ab? Warum habt Ihr so viel Angst vor uns?
Herzlichst – A. und O."

Wiener Zeitung, 2. Juli 2008