Mittwoch, 1. Februar 2006

Der Preis für ein bisschen Wohlstand

Zu Tausenden ziehen sie weg – von Lettland nach Großbritannien. Und sie sind dort erwünscht.



Lelde Stare will weg. Die 28-Jährige sitzt in einem Kaffeehaus in Riga und schüttelt ihre halblangen blonden Haare. Nein, hier bleiben will sie nicht. Das Problem ist nicht die boomende Hauptstadt, mit ihren teils prachtvoll renovierten Jugendstilhäusern, den schicken Cafes und zahlreichen Boutiquen. Das Problem ist Lettland, wo die junge Frau keine Perspektiven für sich sieht – derzeit nicht. Jeder zehnte hier hat keinen Job, auf dem Land ist es sogar jeder Dritte.
Dabei würde Lelde das gar nicht treffen. Sie hat Betriebswirtschaft studiert, spricht fließend Englisch. Sie weiß, dass sie einen Job finden würde. In Zeitungsannoncen werben Firmen um „gut ausgebildete flexible junge“ Menschen. Doch Lelde weiß auch um das Durchschnittsgehalt in Lettland: Es beträgt nicht einmal 300 Euro. Da geht sie lieber nach Großbritannien, wo sie mehr verdient – selbst wenn sie als Zimmermädchen arbeitet oder Teller abwäscht.
Wie der Nachbar Estland kämpft auch Lettland mit einer schrumpfenden Bevölkerungszahl. Rund 2,5 Millionen Menschen leben dort, jeder Dritte wohnt in Riga. Jährlich gehen tausende Junge ins Ausland arbeiten. Viel Auswahl haben sie dabei nicht: Als neue EU-Bürger können sie zwar überall in der Union leben. Doch für ihre Arbeitsmärkte haben fast alle alten EU-Staaten Übergangsfristen verhängt. Nur in Großbritannien, Schweden und Irland sind die Arbeitswilligen aus dem Osten willkommen. Obwohl sie meist eine gute Ausbildung haben, arbeiten sie dort oft als Kellnerin, Bauarbeiter, Zimmermädchen, Au-Pair, Erntehelfer. Manche nur ein paar Wochen oder Monate, manche jahrelang.
Allein nach Großbritannien sind seit dem 1. Mai 2004, seit der EU-Osterweiterung, an die 300.000 Menschen gegangen. Ein Viertel von ihnen stammt aus Lettland, Litauen und Estland. Doch Klagen über einen Ansturm ausländischer Arbeitskräfte kommen von den Regierungen in London, Dublin und Stockholm keinesfalls. Britische Unternehmen geben in osteuropäischen Zeitungen weiterhin Suchanzeigen für Migrationswillige auf. Dass und wie sehr die Länder von den neuen Arbeitskräften profitieren, will die EU-Kommission nächste Woche in einem Bericht darlegen.
Über die Lebensumstände der Ausgewanderten wird dort wohl wenig zu lesen sein. Viele der Jobsuchenden müssen sich mit geringeren Löhnen als Inländer zufrieden geben. Dafür werden ihnen hohe Mieten abgeknöpft. Akkordarbeit auf den Feldern oder zwölf-Stunden-Schichten in den Betrieben sind keine Seltenheit. Welchen Preis sie für das bisschen Wohlstand zahlen, das sie nach Hause bringen, erzählen sie meist nicht.
In der Zwischenzeit hoffen sie, dass die Wirtschaft in Lettland weiterhin so schnell wächst und attraktive Jobs geschaffen werden. Sechs Prozent sollte das BIP-Wachstum heuer wieder betragen, drei Mal so viel wie in den alten EU-Staaten. Die Bauwirtschaft boomt, ausländische Investoren wissen die niedrigen Steuern und Einkommen zu schätzen.
Doch eine Mittelschicht, die den Wohlstand eines Landes dauerhaft macht, bildet sich nur langsam. Noch immer ist die Kluft zwischen Arm und Reich groß. Ein Jungunternehmer kann schnell zu Geld kommen, indem er ein Dutzend Näherinnen Konfektion für internationale Modemarken zum Mindestlohn fertigen lässt. Doch neben dem neuesten Ferrari-Modell steht eine alte Frau, die einzelne Zigaretten und ein paar Zwiebeln anbietet. Wenn ihr die jemand abkauft, kann sie sich ihr Abendessen leisten.
Für Essen und Trinken geben die Letten ein Viertel ihres Haushaltsbudgets aus. In reicheren Ländern – wie Großbritannien – beträgt der Anteil nicht einmal ein Zehntel, im EU-Schnitt sind es 13 Prozent.
Dass in England dafür andere Dinge wesentlich teurer sind, weiß Lelde Stare. Sie möchte ihr Geld auch nicht dort ausgeben, sondern so viel wie möglich sparen. Denn sie will nach Hause, nach Lettland zurückkommen. Und irgendwann einmal bleiben.
Mittwoch, 01. Februar 2006Der Preis für ein bisschen Wohlstand
Zu Tausenden ziehen sie weg – von Lettland nach Großbritannien. Und sie sind dort erwünscht.
Lelde Stare will weg. Die 28-Jährige sitzt in einem Kaffeehaus in Riga und schüttelt ihre halblangen blonden Haare. Nein, hier bleiben will sie nicht. Das Problem ist nicht die boomende Hauptstadt, mit ihren teils prachtvoll renovierten Jugendstilhäusern, den schicken Cafes und zahlreichen Boutiquen. Das Problem ist Lettland, wo die junge Frau keine Perspektiven für sich sieht – derzeit nicht. Jeder zehnte hier hat keinen Job, auf dem Land ist es sogar jeder Dritte.
Dabei würde Lelde das gar nicht treffen. Sie hat Betriebswirtschaft studiert, spricht fließend Englisch. Sie weiß, dass sie einen Job finden würde. In Zeitungsannoncen werben Firmen um „gut ausgebildete flexible junge“ Menschen. Doch Lelde weiß auch um das Durchschnittsgehalt in Lettland: Es beträgt nicht einmal 300 Euro. Da geht sie lieber nach Großbritannien, wo sie mehr verdient – selbst wenn sie als Zimmermädchen arbeitet oder Teller abwäscht.
Wie der Nachbar Estland kämpft auch Lettland mit einer schrumpfenden Bevölkerungszahl. Rund 2,5 Millionen Menschen leben dort, jeder Dritte wohnt in Riga. Jährlich gehen tausende Junge ins Ausland arbeiten. Viel Auswahl haben sie dabei nicht: Als neue EU-Bürger können sie zwar überall in der Union leben. Doch für ihre Arbeitsmärkte haben fast alle alten EU-Staaten Übergangsfristen verhängt. Nur in Großbritannien, Schweden und Irland sind die Arbeitswilligen aus dem Osten willkommen. Obwohl sie meist eine gute Ausbildung haben, arbeiten sie dort oft als Kellnerin, Bauarbeiter, Zimmermädchen, Au-Pair, Erntehelfer. Manche nur ein paar Wochen oder Monate, manche jahrelang.
Allein nach Großbritannien sind seit dem 1. Mai 2004, seit der EU-Osterweiterung, an die 300.000 Menschen gegangen. Ein Viertel von ihnen stammt aus Lettland, Litauen und Estland. Doch Klagen über einen Ansturm ausländischer Arbeitskräfte kommen von den Regierungen in London, Dublin und Stockholm keinesfalls. Britische Unternehmen geben in osteuropäischen Zeitungen weiterhin Suchanzeigen für Migrationswillige auf. Dass und wie sehr die Länder von den neuen Arbeitskräften profitieren, will die EU-Kommission nächste Woche in einem Bericht darlegen.
Über die Lebensumstände der Ausgewanderten wird dort wohl wenig zu lesen sein. Viele der Jobsuchenden müssen sich mit geringeren Löhnen als Inländer zufrieden geben. Dafür werden ihnen hohe Mieten abgeknöpft. Akkordarbeit auf den Feldern oder zwölf-Stunden-Schichten in den Betrieben sind keine Seltenheit. Welchen Preis sie für das bisschen Wohlstand zahlen, das sie nach Hause bringen, erzählen sie meist nicht.
In der Zwischenzeit hoffen sie, dass die Wirtschaft in Lettland weiterhin so schnell wächst und attraktive Jobs geschaffen werden. Sechs Prozent sollte das BIP-Wachstum heuer wieder betragen, drei Mal so viel wie in den alten EU-Staaten. Die Bauwirtschaft boomt, ausländische Investoren wissen die niedrigen Steuern und Einkommen zu schätzen.
Doch eine Mittelschicht, die den Wohlstand eines Landes dauerhaft macht, bildet sich nur langsam. Noch immer ist die Kluft zwischen Arm und Reich groß. Ein Jungunternehmer kann schnell zu Geld kommen, indem er ein Dutzend Näherinnen Konfektion für internationale Modemarken zum Mindestlohn fertigen lässt. Doch neben dem neuesten Ferrari-Modell steht eine alte Frau, die einzelne Zigaretten und ein paar Zwiebeln anbietet. Wenn ihr die jemand abkauft, kann sie sich ihr Abendessen leisten.
Für Essen und Trinken geben die Letten ein Viertel ihres Haushaltsbudgets aus. In reicheren Ländern – wie Großbritannien – beträgt der Anteil nicht einmal ein Zehntel, im EU-Schnitt sind es 13 Prozent.
Dass in England dafür andere Dinge wesentlich teurer sind, weiß Lelde Stare. Sie möchte ihr Geld auch nicht dort ausgeben, sondern so viel wie möglich sparen. Denn sie will nach Hause, nach Lettland zurückkommen. Und irgendwann einmal bleiben.

Wiener Zeitung, Mittwoch, 01. Februar 2006