Mittwoch, 21. November 2007

"Die EU will uns nicht? Na und?"



Aufzählung Istanbul lebt nach eigenen Regeln – das Tauziehen um einen EU-Beitritt der Türkei rückt da in den Hintergrund.

Der Vorraum des Klub Mansion ist goldgelb tapeziert. Die Türsteher in dem Lokal in einem der eleganteren Bezirke Istanbuls tragen Anzug und Krawatte. Innen zieht sich die Bar in einem Rechteck um eine Säule. Die Decke ist mit Spiegelplatten ausgelegt; vor der Bühne stehen helle Ledersofas und niedrige Couchtische.

Dort haben die Prominenten ihre Plätze reserviert: eine Sängerin mit langen blonden Haaren und langen dünnen Beinen, die später um einen Auftritt gebeten wird; ein voluminöser Fernsehmoderator, der all seine Bekannten überschwänglich mit Küsschen begrüßt und seiner Begleiterin ständig an den Hintern fasst; vier um einen der Stehtische drapierte Models, die an ihren bunten Cocktails nippen. Die hochgewachsenen Frauen ziehen die Blicke der Männer auf sich.

Die Show fängt nicht vor ein Uhr nachts an. Zu den Klängen der türkischen Band erscheinen drei Transvestiten und eine Frau, mit Perücken, knappen Lederröcken oder -hosen und Schuhen auf 30 Zentimeter hohen Plateausohlen. Sie bewegen sich durch den Zuschauerraum, schäkern mit den Gästen, animieren sie zum Tanzen. Danach richtet sich die Aufmerksamkeit der Besucher wieder auf die Bühne, auf die in grüne Seide gehüllte Bauchtänzerin.

Trotz der orientalisch angehauchten Darbietung, trotz der sehnsuchtsvollen türkischen Lieder – die Türkei mit Männern, die auf armseligen Stühlen kettenrauchend im Kaffeehaus sitzen und ihre Gebetskette durch die Finger gleiten lassen, sowie Kopftuch tragenden Frauen, die ihre Einkaufstaschen nach Hause schleppen, ist von diesem Ort ebenso weit entfernt wie von Helsinki oder Brüssel. Schicker als in den feinen Klubs von Istanbul kann es weder in Paris noch in London zugehen.

*

Das ist die eine Seite der Stadt. Die andere zeigt sich in den Slums, in den über Nacht gebauten Hütten, aus denen die Bewohner schrittweise ausquartiert werden sollen und wo die Stromversorgung immer wieder zusammenbricht. In den überfüllten Quartieren der Immigranten und der irakischen Flüchtlinge, die auf eine Weiterreise nach Kanada warten. An den winzigen Verkaufsständen der Kurden, die ihre Dörfer in Südostanatolien räumen mussten und nun gefüllte Muscheln anbieten.

Die längste Ausdehnung Istanbuls beträgt mehr als 100 Kilometer; offiziell leben dort knapp zehn Millionen Menschen. Doch schätzungsweise sind es 13 oder 15 Millionen. Wer kann das schon genau wissen? Das wären fast doppelt so viele Einwohner wie in ganz Österreich; oder beinahe die Bevölkerung Tschechiens und der Slowakei zusammengenommen. Alle sechs Minuten soll in Istanbul ein neuer Mensch auftauchen, meist auf der Suche nach Arbeit. Istanbul ist mehr als eine Metropole; es ist ein strahlender Kosmos, in dem so manche Hoffnung verglüht.

*

Die Stadt hat ihre eige-nen Regeln und ihre eigenen Probleme. Die von Mustafa Kemal Atatürk ab den 1920er Jahren forcierte Orientierung nach Westen hat solide Wurzeln geschlagen. Die türkische Wirtschaft mit ihrem siebenprozentigen Wachstum pro Jahr, intensiven Handelsbeziehungen zu westeuropäischen Ländern und steigender Attraktivität für ausländische Investoren ist bereits in der Europäischen Union angelangt.

Das politische Tauziehen um einen EU-Beitritt der Türkei scheint da eine geringere Rolle zu spielen. Und während die EU-Staaten über eine Integration des Landes diskutieren, flacht das Interesse vieler Türken daran schon wieder ab. Haben noch vor zwei Jahren, beim Start der Beitrittsverhandlungen, an die 70 Prozent der Befragten in der Türkei eine EU-Mitgliedschaft ihres Landes befürwortet, ist in manchen Umfragen mittlerweile nicht einmal jeder Zweite dafür.

Im Klub Mansion fasst es die 29-jährige Bank-Analystin Pinar in knappen Sätzen in fließendem Englisch so zusammen: "Die EU will uns nicht? Na und? Wen kümmert’s?" Dann schüttelt sie ihr rabenschwarzes langes Haar und singt beim nächsten türkischen Lied wieder mit.

Mittwoch, 21. November 2007




http://www.wienerzeitung.at/DesktopDefault.aspx?TabID=4555&Alias=wzo&cob=313190&currentpage=0

Mittwoch, 14. November 2007

Die Schattenseiten der lichten Kulturhauptstadt


Aufzählung Sibiu (Hermannstadt) steht heuer im BlickpunktEuropas und hofft, irgendwann davon zu profitieren.

Die Seiten von Sibiu, die Elena zeigt, sind in keiner Tourismusbroschüre zu finden. Die junge Frau führt weg von den herausgeputzten Häuschen im Zentrum des alten Hermannstadt. Die mittelrumänische Stadt ist noch bis Jahresende europäische Kulturhauptstadt, und dafür hat sie sich feingemacht.

Doch nicht für alles haben die rund 100 Millionen Euro gereicht, die Sibiu in die Infrastruktur steckte. Und nicht alles war rechtzeitig fertig. Das Bahnhofsgebäude aus der K.u.K-Zeit war im Herbst noch nicht renoviert. Eine Umfahrungsstraße für Sibiu gibt es wegen finanzieller Zwistigkeiten mit der Regierung in Bukarest noch nicht. Und frisch gestrichene Fassaden glänzen gerade einmal in der Altstadt.

Schwierigkeiten gibt es auch mit der Kanalisation. Die ist in dem Viertel am Rande Sibius, wo Elena arbeitet, so gut wie gar nicht vorhanden. Wenn es stark regnet, können die Rinnen am Straßenrand das Wasser nicht mehr auffangen und gehen über. Wie um dem Unbill gemeinsam zu trotzen, schmiegen sich die niedrigen Häuser aneinander. Eines der größeren Gebäude ist die Schule, in der Elena Geschichte unterrichtet. Im kleinen verfallenden Schuppen daneben war noch vor zehn Jahren die Toilette untergebracht. Mittlerweile müssen die Schüler – im Alter von bis zu 14 Jahren – aber nicht mehr rausgehen.

Ihren Arbeitsplatz verlassen, um arbeiten zu können, muss aber immer wieder Elena. Sie und ihre Kollegen gehen dann in die benachbarte kleine Siedlung aus Holz- oder Wellblechhütten und fragen, wo ihre Schüler bleiben. Es ist eine Roma-Siedlung. "Fast 90 Prozent unserer Schüler sind Roma", erzählt Elena. Nicht immer seien aber die Eltern schuld, dass ihre Kinder die Schule schwänzen.

Elena braucht viel Geduld. Manche ihrer Schüler hätten extreme Lerndefizite. Und wenn sie gefragt werden, warum sie nicht lernen, zucken sie mit den Schultern und antworten: "Weiß nicht." "Aber wenn du einen talentierten, intelligenten Schüler hast, dann ist das die Belohnung", sagt die Lehrerin. Sie mag ihre Arbeit, auch wenn sie schlecht bezahlt ist. Sie will die Kinder nicht sich selbst überlassen.

*

Zwanzig Minuten mit dem Auto von dem Viertel entfernt residiert Bürgermeister Klaus Johannis in dem frisch renovierten Rathaus, das 1902 als Sitz der Sächsischen Bodenkreditanstalt erbaut wurde. Die Siebenbürger Sachsen machen in Hermannstadt mittlerweile gerade einmal etwa 1,5 Prozent der 180.000 Einwohner aus – doch seit der Gemeinderatswahl 2004 stellen sie zwei Drittel der Stadträte.

Was von der Kulturhauptstadt bleiben wird? Johannis zählt auf: "Die Infrastruktur, die renovierten Häuser, die Freiluftbühne, die Festivals, die weitergeführt werden." Ebenso hofft er, dass der Tourismus – bisher eine irrelevante Einnahmequelle – künftig ein wesentlicher Wirtschaftszweig für die Stadt werden wird.

Vom wirtschaftlichen Aufschwung werden früher oder später wohl auch die ärmeren Viertel von Hermannstadt profitieren. Auch Elena findet, dass es gut für Sibiu war, Kulturhauptstadt zu werden. Selbst wenn nicht alles rechtzeitig fertig geworden ist.

Wiener Zeitung, Mittwoch, 14. November 2007