Mittwoch, 31. Oktober 2007

"Die kommen zurück" - oder auch nicht



Aufzählung Die massenhafte Emigration meist junger Menschen wird in Polen nicht immer als Problem angesehen.

Vielleicht ist es das Älterwerden, vielleicht die Tatsache, dass die Kinder nicht mehr zu Hause wohnen, vielleicht auch etwas anderes – Irena sehnt sich nach ihrer Heimat. Die 52-Jährige lebt seit 20 Jahren in Berlin, doch sie stammt aus der ostpolnischen Stadt Mielnik, wo noch ihre Mutter wohnt. Dort, am Ufer des Flusses Bug, inmitten von Feldern und Wäldern und unweit der Grenze zu Weißrussland, ist es viel ruhiger als in der deutschen Metropole. "Es zieht mich dorthin, wo ich herkomme", sagt Irena.

Die Emigration habe sie viel gekostet, erzählt sie. Dass ihr Ehemann – den sie beim Studium in Schlesien kennengelernt hatte – deutsche Wurzeln hat, hat sie nicht einmal bei der Hochzeit gewusst. Doch bald bekam er die Möglichkeit auszureisen – und nutzte sie. Er überzeugte seine Frau, in Berlin ein neues Leben aufzubauen. Zunächst arbeitete sie in einer Schokoladefabrik, büffelte Deutsch. Erst nach Jahren konnte sie ihren Beruf als Buchhalterin in einem kleinen Unternehmen ausüben. Sie zog eine Tochter und einen Sohn groß, bevor sie krank wurde und eine Rente beziehen musste.

Die Kinder haben nun ihre eigenen Familien, der Mann ist zufrieden mit seinem Leben in Deutschland, und Irena denkt immer öfter darüber nach, ob sie nach Polen zurückkehren soll. Andererseits: Was solle sie dort machen? Schließlich leben die Kinder und Enkel in Deutschland. "Soll ich dann jedes Jahr die gleiche Reise wie jetzt zu meiner Mutter machen, nur in umgekehrter Richtung?", fragt sich Irena.

*

Die Frau gehört nicht zu den geschätzten zwei Millionen Menschen, die erst in den vergangenen drei Jahren aus Polen emigriert sind. Doch die Fragen, die sich Irena stellt, betreffen auch diese Auswanderer. Denn nur ein Teil von ihnen kehrt lediglich für ein paar Monate Saisonarbeit im Ausland der Heimat den Rücken. Andere haben sich darauf eingerichtet, in Großbritannien oder Irland zu bleiben. Ihre Kinder gehen dort in die Schule; und ab und zu für ein paar Tage nach Polen zu reisen, ist dank der Billigfluglinien auch kein Problem. Warum also jetzt schon an Rückkehr denken?

Einer Umfrage unter 1389 Personen zufolge geben 55 Prozent der Polen in Großbritannien und 49 Prozent in Irland an, überhaupt nicht zurückkommen – oder erst in fünf, zehn Jahren darüber nachdenken zu wollen.

Im Land selbst werden die Klagen von Unternehmen wie Baufirmen unterdessen lauter: Es mangelt an Arbeitskräften. Zwar sind die realen Löhne in den vergangenen Jahren um bis zu 20 Prozent gestiegen. Doch ist der Verdienst, auch in weniger qualifizierten Jobs etwa im Bau- oder Hotelwesen, im Ausland noch immer bis zu vier Mal höher als in Polen.

*

Dennoch wird die Emigration der meist jungen Menschen in Polen nicht immer als Problem angesehen. "Die kommen ja zurück", meint etwa ein konservativer Spitzenpolitiker. "Polen hat genug Arbeitskräftepotenzial, nur ist die Beschäftigtenquote zu niedrig", sagt ein Ökonom: "Die Menschen im Land sollten zum Arbeiten motiviert und nicht beispielsweise in Frühpension geschickt werden." Und eine begeisterte Europäerin aus der Vertretung der EU-Kommission in Warschau frohlockt: "Europa rückt durch Mobilität zusammen. Polen, die nach Großbritannien gehen, bringen den Briten Polen näher. Umgekehrt wird auch den Polen Großbritannien nähergebracht."

In seiner Ansprache am Wahlabend richtete Donald Tusk, Vorsitzender der bei der Parlamentswahl siegreichen wirtschaftsliberalen Bürgerplattform, einen Satz an die Auslandspolen: Er wünsche sich, dass jene, die ihr Glück außerhalb Polens suchen, nach Hause zurückkehren.

Dazu möchte seine Partei etwa durch Steuererleichterungen oder Investitionsmöglichkeiten bewegen. Doch all das sind vorerst nur Versprechen – und auch die sind erst auf einer der letzten Seiten des 84-seitigen Wahlprogramms formuliert.

Wiener Zeitung, Mittwoch, 31. Oktober 2007

Mittwoch, 10. Oktober 2007

Reise an Europas fernsten Rand



Aufzählung Nachrichten aus Diyarbakir handeln oft vom Krieg der Türkei gegen die PKK. Ansichten aus Kurdistan.

"Du bist verrückt. Nach Diyarbakir willst du fahren? Dort sind doch nur Kurden!" Der Plan, in den Südosten des Landes zu reisen, stößt bei türkischen Bekannten in Ankara auf Unverständnis. Auch wenn einige von ihnen noch nie dort waren: Die Region bringen sie in erster Linie mit Armut sowie Zurückgebliebenheit in Verbindung - und mit Kämpfen zwischen der Armee und der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK. Es vergeht kaum ein Tag, an dem bei Gefechten in den Bergen an der Grenze zum Irak nicht blutjunge türkische Soldaten sterben. Ebenso wie Aktivisten der PKK. "Terroristen" heißen sie offiziell. Kurden hingegen - als deren Metropole Diyarbakir gilt – nennen sie meist "Guerilla".

*

Doch auf den ersten Blick unterscheidet sich Diyarbakir kaum von anderen anatolischen Städten, die nicht zuletzt durch die Landflucht stark gewachsen sind. Abgesehen vielleicht von den riesigen stacheldrahtumzäunten Arealen, die die Armee einnimmt. Pastellfarbene Wohnblöcke mit bunten Zierleisten unter den Balkonen ziehen sich bis an die Stadtränder. Dazwischen gläserne Bürogebäude und unzählige Werbetafeln an den Hauswänden. In Ofis, einem der neueren Viertel, reihen sich Geschäfte aneinander, neben Bars und Kaffeehäusern. Am Abend, wenn es von den 35 Grad Celsius im Herbst auf 20 Grad abgekühlt hat, sitzen Männer wie Frauen, in T-Shirts und Jeans in schicken Cafes auf Sitzpölstern und rauchen Nargile, Wasserpfeife. Auf den vierspurigen Ausfallstraßen hupen Autofahrer ihre Vordermänner an. Eine Skulptur in einem Kreisverkehr zeigt, wofür Diyarbakir auch bekannt sein will: Wie auf einer mehrstöckigen Torte prangt eine steinerne Wassermelone.

Denn obwohl von kargen ausgedörrten Bergen umgeben, liegt die Stadt selbst in einer fruchtbaren Ebene. Es ist das alte Mesopotamien, dessen Kultur Jahrtausende alt ist. Der Fluss Tigris, über den eine fast 950 Jahre alte Brücke mit zehn Bögen führt, macht den Anbau von Melonen, Tomaten und Gurken möglich. Die Felder sind besonders gut von den Bastionen der Wehrmauern aus zu sehen, die die Altstadt umschließen.

*

Innerhalb der Mauern scheint die moderne Türkei weit entfernt; die gläsernen Teile Diyarbakirs und seine schicken Cafes sind wie aus einer anderen Welt. Innerhalb der alten Mauern gehören die Straßen den Männern: Sie sitzen vor den Cafés, bieten an Ständen ihre Ware an, schlendern durch die Altstadt, starren Menschen aus dem Ausland an - und ganz besonders die Frauen. Es ist staubig; der Geruch von Obst und Gewürzen vermischt sich mit dem Gestank von Abfall. In den engen verwinkelten Gassen, wo die Sonne selten hinkommt, laufen Grüppchen von Kindern mit zerzaustem Haar herum. "Hello, what's your name?" rufen sie Fremden zu. Manche wollen Geld, werden von Erwachsenen aber vertrieben. Auf den Schwellen der niedrigen Häuser hocken Frauen mit lose gewickelten weißen Kopftüchern und plaudern miteinander. In einem der wenigen renovierten Innenhöfe mit ihren hohen Erkern sitzen sechs ältere Männer: Sänger, die kurdische Weisen voller Wehmut von sich geben. Andere Männer hören ihnen zu.

*

Diyarbakir ist in den letzten Jahren auf geschätzte 1,5 Millionen Einwohner angewachsen. Laut Menschenrechtsorganisationen hat die türkische Armee seit den 90er-Jahren an die 3680 von Kurden bewohnte Dörfer wegen der Kämpfe mit der PKK geräumt. Die Menschen flohen und leben seitdem in Slums in großen Städten wie Istanbul und Ankara - oder in Diyarbakir. Erst seit wenigen Jahren dürfen sie auf den Straßen Kurdisch sprechen, ohne Angst vor strafrechtlicher Verfolgung. Doch die Probleme wie hohe Arbeitslosigkeit, jahrzehntelange wirtschaftliche Vernachlässigung, ein feudales System in der Landwirtschaft, geringe Bildung, Unterdrückung der Frauen bleiben. Der Wandel ist hier weit zögerlicher als woanders in der Türkei.

Wiener Zeitung, am Mittwoch, 10. Oktober 2007