Montag, 28. April 2008

FUSSBALL!

Selten entspricht das Klischee der Realität, doch bei der Fußballleidenschaft in der Türkei ist es der Fall. Es ist tatsächlich so: Die Treue zu einem Verein gleicht einem Glaubensbekenntnis. Ob Besiktas-, Galatasaray- oder Fenerbahce-Fan; es ist ein Teil der eigenen Identität. Und wenn zwei dieser Istanbuler Teams gegeneinander antreten, herrscht Ausnahmezustand in der Stadt. So auch beim gestrigen Superliga-Spiel, als Galatasaray Spitzenreiter Fenerbahce herausforderte. Schon am frühen Nachmittag füllen sich die Straßen mit Menschen, die ihre Sympathie nach außen tragen. In der Fußgängerzone der Istiklal Caddesi, wo auch das mächtige Galatasaray-Gymnasium steht, überwiegen die Fans der Löwen. Die gelb-roten Schals und Trikots leuchten von weitem. Auch die Kellner in den Cafes rund um den Taksim-Platz haben sie bereits angelegt. Nur eine Kellnerin bildet eine Ausnahme: Sie trägt ein gelb-dunkelblaues Band um den Hals; sie hält zu Fenerbahce. Vor den Wettannahmestellen bilden sich Schlangen. Im Hotel werde ich gebeten, den Tisch aus meinem Zimmer herzuborgen: Im Restaurant und in der Lobby werden alle vorhandenen Tische für das abendliche Publikum vor dem Fernseher zusammengestellt. Auf dem Taksim-Platz postieren sich mehrere Polizei-Einheiten und Wagen des Roten Halbmondes.
Die Lokale verdienen doppelt: Sie verlangen Eintritt. Der kostet zehn Lira, fast so viel wie drei Bier. Du zahlst also Eintritt, damit du mit anderen Verrückten in einem schäbigen Beisl vor einem Fernseher – die Plätze vor dem Großbildschirm sind schon alle besetzt – hocken und dir den Hals verrenken kannst, weil du neben einer Säule sitzt und ausgerechnet jetzt einer der wenigen Türken auftaucht, der größer ist als du und sich prompt vor dich setzt. Und dann kommt das übliche Schreien, Stöhnen und Seufzen bei einem Match, nur halt etwas lauter und von in die Höhe schellenden Armen begleitet. Auf das Tor für Galatasaray in der 37. Minute folgt minutenlanger Jubel. Es bleibt beim eins zu null.
Nach Ende des Spiels leert sich das Lokal innerhalb von fünf Minuten. Aber die Menschen gehen keinesfalls zufrieden heim, doch nicht nach einem Sieg! Eine halbe Stunde später zieht eine Gruppe Galatasaray-Fans durch die Istiklal Caddesi, schwenkt Fahnen, schlägt Trommeln. Der Gesang schwillt an, gelb-rot weht durch die Straße. Auf einmal hockelt sich eine Gruppe nieder, einer schreit etwas vor, die anderen schreien es nach. Bald stehen sie wieder auf, und der Triumphzug setzt sich erneut in Bewegung.
2002, nach dem Einzug der türkischen Nationalmannschaft ins WM-Halbfinale, hat es sieben Tote gegeben. Sie wurden von Autokonvois durchgeknallter Fans überrollt. Zwei Dutzend Menschen wurden verletzt, weil sie Freudenschüssen im Weg gestanden waren.
Das Superliga-Spiel forderte diesmal keine Todesopfer.

Mittwoch, 23. April 2008

Ein Alltag

Wenn ich in der Früh auf den Balkon hinaustrete, steht der Mann, der in der Schneiderei gegenüber arbeitet, bald am Fenster und winkt mir zu. Es ist heiß in dem Raum, in dem ein Dutzend Männer an irgendwelchen Maschinen steht. Mein Fensterbekannter trägt daher leider nur ein Unterhemd über der Hose. Letztens hat er mir über die Straße eine Tasche angeboten. Zum Kauf? Als Geschenk? Keine Ahnung.

Mein geliebter türk kahvesi kostet manchmal mehr als das ganze Frühstück davor. Im übrigen lässt es sich in Istanbul sehr billig essen, wenn jemandem ein Imbissstand a la Würstelbude genügt. Dafür kostet der Eintritt in eine Disco das Zehnfache einer solchen Mahlzeit.

In einem Innenhof hat ein Buchhaendler alte Taschenbücher auf einem Gestell vor seinem Laden drapiert. Eine Katze hat sich einen besonders sonnigen Stapel ausgesucht. Sie hat sich zusammengerollt und schlaeft auf den Büchern.

Mit meiner chinesischen Kurskollegin gehe ich auf einen Kaffee. Sie trinkt Cola, ich trinke Bier. Wir unterhalten uns auf Türkisch, und da unser Wortschatz sehr eingeschränkt ist, sprechen wir über das, was wir in einfache Worte fassen können: über Männer. Da habe es schon ein paar gegeben, sagt G. Und, ja, es gebe durchaus hübsche Türken in Istanbul. Aber jetzt schaue sie nur einen an. G. ist erst seit wenigen Monaten verheiratet. Ihr Mann ist Ujgure und nach Istanbul wegen seiner Weiterbildung gekommen. Sie hat ihn beim Arzt kennengelernt: Er war der Arzt.

Soviel verstehe ich schon: „Ist sie allein gekommen?“ fragt ein Kellner den anderen im Restaurant. Ich will einfach nur in Ruhe zu Abend essen. Doch die Menschen sind meist zu freundlich, um das zu erlauben. Daher erkläre ich, woher ich komme und was ich hier mache. Und schon bietet sich der nächste Kellner an, mir Nachhilfeunterricht zu geben. In Türkisch.

Die Möwen, die in der Nacht über Istanbul fliegen, strahlen. Sie sind von den Lichtern der Stadt beleuchtet.

Vier Polizisten in Zivil

S. erzählt mir von ihren Erfahrungen mit Polizeigewalt in Istanbul. Es war während des vergangenen Ramazan – muss also irgendwann im September gewesen sein. Mit zwei Freundinnen war sie um vier in der Nacht mit dem Taxi unterwegs nach Hause. Auf einmal hielt ein Polizeiauto den Wagen an. Zwei Polizisten stiegen aus, verlangten von den jungen Frauen einen Ausweis. Sie haben das Recht dazu. Doch die Bürger wiederum haben das Recht, den Beamten zu sagen, sie sollen sich selbst ausweisen. Das taten die Frauen doch glatt. Leichte Verärgerung bei den Polizisten, dann zeigte einer einen Ausweis, verdeckte dabei aber sowohl Namen als auch Foto. „Wir wollen den ganzen Ausweis sehen“, forderte S. „Wir sind in Uniform, fahren einen Polizeiwagen. Das muss euch genügen“, war die schon sehr ungeduldige Antwort. Auf einmal hielt ein anderes Auto an, vier Männer stiegen aus, erfassten die Situation schnell. Und handelten: Sie fingen an, die Frauen zu beschimpfen, sie zu stoßen und gegen das Taxi zu werfen. Der Taxifahrer versuchte zu vermitteln, eine von S.s Freundinnen wollte die Polizei rufen. Denn die, die da war, tat nichts. Schließlich wurden die Frauen ins Taxi gestoßen und konnten fahren. Wie sich dann herausstellte, waren die Angreifer ebenfalls Polizisten – in Zivil. Anscheinend wollten sie ihren Kollegen „zu Hilfe“ kommen, nachdem sie gesehen hatten, dass sonst nichts gegen die Frauen vorliegt. Das sagte S. ein Anwalt, den die Freundinnen kurz danach konsultierten. Machen lasse sich allerdings gegen die Polizisten nichts, erklärte er. Die Frauen hätten ja keinen medizinisch bestätigten Schaden davongetragen.

Musik, Melancholie und die Folgen

Bei der Musik gibt es gar keine andere Möglichkeit: Du musst dich verlieben. Selbstverständlich unglücklich – und jeden zweiten Tag in jemand anderen (nur jeden zweiten? fragt H. am Telefon). Denn die Auswahl ist groß. Die erste Leidenschaft in Istanbul war Powertürk selbst. Das könnte ich mir schon zum Frühstück reinziehen. Der Musikkanal ist voll der wehmütigen Weisen, die meist von Liebe handeln, die alles mögliche ist: Berge versetzend, Meere überwindend, den Schlaf raubend, heftig, stark, ewig – aber meist nicht erfüllt und manchmal nicht einmal erwidert. Zum Pulsadern aufschneiden, wie es ein spanischer Kurzzeit-Bekannter formulierte. Er konnte den türkischen Pop nicht ausstehen. Ich aber kann dem durchaus etwas abgewinnen. Da gibt es zum Beispiel ein Musikvideo von Tarkan, in Schwarz-Weiß gehalten, wo der Mann im halb aufgeknöpften Hemd im Regen steht. Der rinnt ihm wasserfallartig über den Kopf, die ausgebreiteten Arme, über die Brust. Dann steht er hinter einem verregneten Fenster und singt schmachtend. Ich bin nicht sicher, an wen sich das Video tatsächlich richtet, wahrscheinlich sollen aber Frauen angesprochen werden. Wie auch immer, die Melancholie hängt in der Luft. Doch anders als jene von Orhan Pamuk beschriebene, die vom Wehmut über den Verlust eines strahlenden Reiches geprägte, ist diese Melancholie von Sexuellem durchtränkt. Die Männer schauen dir tief in die Augen, flöten dir blumige Texte ins Ohr. Haben sie die aus den Musikvideos gelernt oder den türkischen Schnulzenfilmen der 70er-Jahre? Die Frauen sehen umwerfend aus, mit ihren schwarzen Haaren, dunklen Augen und ihrem selbstbewussten Auftreten. Die Männer begrüßen einander mit Küssen, die Frauen fallen einander in die Arme, alle werfen sich Kosenamen wie – frei übersetzt – „mein Lebenshauch“ oder „mein Herz“ zu. In Beyoglu sind die in der Nacht Herumziehenden zu einem wesentlichen Teil jung, hübsch und vergnügungssüchtig. Mithineingezogen zu werden ist nicht schwierig. Ich kann quasi gar nichts dafür...

Ein Parkplatz!

Parken um Mitternacht in Beyoglu: Zumindest für die Zuseher ist es interessant. Die engen Gassen sind voller Menschen, die auf der Suche nach dem für sie passenden Lokal sind. Trotzdem schaffen es die Autofahrer noch, ihre Gefährte langsam dazwischen zu bewegen, um dann links und rechts der bevölkerten Fahrbahn zu parken. Die Spiegel sind eingeklappt, zwischen der Hausmauer und der Autotür ist nur etwas mehr als eine Handbreit Platz. Jemand hat noch eine Lücke entdeckt. Doch auf einmal ist ein Problem da: Der Wagen kann sich nicht mehr bewegen. Er ist eingeklemmt. Hinter ihm sind plötzlich zwei Autos; vor ihm, aus der Gegenrichtung in der einzigen Fahrspur kommend, drei. Der Besitzer des Dönerladens, der sowieso meist auf der Straße steht, ist sofort zur Hilfe bereit. Er versucht, das auf der Straße eingeklemmte Auto irgendwie zu dirigieren. Der Friseur vom Geschäft nebenan gibt den nachfolgenden Wagen Zeichen. Ein Junge, der gerade vorbeikommt, ruft den Lenkern, die von der Gegenrichtung kommen, etwas zu. Zwei Fahrer steigen aus, beraten kurz. Ein paar andere Menschen schauen zu. Ein Auto schiebt zwanzig Zentimeter zurück, ein anderes fährt 30 Zentimeter nach rechts. Der Parkplatzsuchende fährt mit Mühe in die Lücke an der Hausmauer. Zwischen ihr und dem Wagen könnte nicht einmal mehr eine der streunenden Katzen hindurchschlüpfen. Ein Fahrer schiebt noch mehr zurück, ein anderer kann vorbeifahren; alles geschieht unter lauten Zurufen des Publikums. Irgendwie löst sich der kleine Stau auf, irgendwann – so wie immer in Istanbul.

Freitag, 11. April 2008

Philosophie zum Bier

Philosophie ist für einen Muslim nichts gutes, befand einst ein islamischer Gelehrter. Kein Wunder, dass sich auf diesem Gebiet in den letzten paar hundert Jahren mehr in Europa getan hat als im islamischen Raum. Mein neuer Bekannter U., der mir das erklärt, wirft gleich ein paar Namen dazu: Descartes, Hobbes oder Kant etwa. Wir sitzen bei einem Bier in der menschenumtosten Nevizade-Straße und sind vom Kellner schon zweimal umgesetzt worden, weil in dem winzigen Schanigarten Platz für eine größere Gruppe zu schaffen war.
U. ist ein entzückender junger Mann, der Philosophie studiert hat, sich jetzt aber mehr mit Wirtschaft beschäftigt, als Sportjournalist arbeitet und seine Freizeit – im Normalfall – gern mit seinen Eltern sowie Geschwistern verbringt. Sein Studium habe ihn von der Religion entfernt, sagt er. Er sei zwar weiterhin Muslim, aber kein strenger, fast schon an der Grenze zum Atheismus. „Muslim ja, aber…“ ist im übrigen in der Türkei immer wieder zu hören, vor allem in den Städten, wo nicht nur Arm und Reich aufeinanderprallen sondern auch verschiedene Volksgruppen mit ihren Kulturen, Jugendliche aber gleichzeitig den Stars in den Musikvideos mehr abschauen als traditionelleren Vorbildern. U. ist ein hübsches Beispiel für die Durchmischung in dem Land. Sein Vater ist Kurde, seine Mutter kommt aus Aserbaidschan. Doch selbst er sagt voller Überzeugung: „Von Minderheiten in der Türkei zu sprechen ist Blödsinn. Wir sind doch alle Türken.“ Diese Ein-Staat-ein-Volk-Ideologie wird den Kindern ab ihrem ersten Schuljahr vermittelt. Sie soll das Einigende in einem Land sein, das auf der Suche nach seiner Identität seit 80 Jahren zwischen Ost und West schwankt; das sich die – keinesfalls von allen gewünschte – „Verwestlichung“ auf die Fahnen geschrieben hat. Sie ist eine Philosophierichtung für sich.

Zimmer mit Ausblick

Der Ausblick hat mich blind für alles andere gemacht. Von dem winzigen Balkon aus ist halb Istanbul zu sehen, fast bis zum Bosporus. Das Häusermeer ist auf der einen Seite, auf der anderen schaue ich vom fünften Stock in die engen Gassen von Beyoglu hinunter. Ich sehe die gelben Taxis, die sich in der Nacht mitten auf der Straße zu einer Schlange auffädeln; die kleinen Geschäfte, die Getränke und Zigaretten, Reinigungsmittel oder noch warmes Weißbrot verkaufen; die Straßenhändler, die ihre Handkarren schieben; die Lokale vor denen niedrige Tischchen stehen und die Menschen, die untertags vorbeieilen und am Abend herumschlendern. Auch das Zimmer ist nett mit seiner Dachschräge und in warme Farben getaucht. Und es ist sauber. Nach all den Absteigen, die ich gesehen habe und die schon für zehn Euro die Nacht zu haben sind, stört es mich kaum, dass die Duschkabinentür mir vielleicht bald entgegenfliegt oder der Vorhang etwas zerrissen ist. Das mit dem Schlafen habe ich mir sowieso schon abgeschminkt, vom Zimmer neben der Baustelle bin ich halt mitten ins Weggeh-Viertel gezogen. Immerhin wird das Gehupe um vier in der Nacht etwas weniger; bleiben dann drei, vier Stunden, bevor es wieder voll losgeht.
Allerdings habe ich schon drei Mitbewohner getötet: zwei Ameisen und eine Schabe. Dass es eine Schabe war, nehme ich zumindest an. Diese Frage diskutierte ich in der Nacht mit dem Patron des Hotels, der mit einer Wow-Blondine auf einen Whiskey vorbeigekommen ist. Selbstverständlich sprachen wir türkisch. Zuerst erklärte ich ihm in fluent turkish, dass im Zimmer „Leben“ ist. Dann erinnerte ich mich an das Vokabel für „Tiergarten“. „Hayat“ und „Hayvanat“ liegen ja wirklich nahe zusammen. Danach bückte ich mich und zeigte mit den Fingern auf dem Boden Schritte an. Schließlich zeichnete ich das Tier in meinem Lehrbuch auf. Die Begleiterin des Patrons hat viel schneller begriffen als er. Am Ende klärten wir noch ab, welche Farbe das Insekt hatte: braun, nicht schwarz. Danach waren wir alle sehr zufrieden, dass wir uns so gut verstanden haben und rauchten eine letzte Zigarette. Das muss doch reichen.

Zu viele "ü"

Sprachunterricht zu geben muss ziemlich nervenaufreibend sein. Zu viert sitzen wir Neslihan gegenüber, die sich unser Gestammel anhört. „Ütülülüjejeüjüejiüjü“ jammern wir. Rauskommen soll: „Ütüleyeyim mi?“ und „ütülemeyelim“ – „Soll ich bügeln?“ und „Lasst uns nicht bügeln.“ Intensiv sollte es ja sein. Aber gleich so? Im Türkisch-Kurs wird tatsächlich nur Türkisch gesprochen. Neben mir nehmen noch eine Ukrainerin, eine Russin und eine Chinesin am Unterricht teil. Sie alle sind nach Istanbul gezogen, weil ihre Männer hier Arbeit angenommen haben. In den Pausen sprechen die Ukrainerin und die Russin miteinander russisch, die Chinesin und ich lächeln einander an, versuchen es mit türkisch und kehren dann zum lächeln zurück. Am dritten Tag habe ich allerdings ein Erfolgserlebnis: Ich warte vor dem besetzten Klo, eine andere Frau kommt dazu. Ihre Frage verstehe ich – und das auf Anhieb: „Warten Sie?“ Ich nicke glücklich.

Sonntag, 6. April 2008

Reden über Politik

„Du bist allein? Setz dich zu uns!“ Als Frau allein in Ruhe ein Bier zu trinken, ist auch in Istanbul nicht immer einfach. Schon sitzt du an einem Tisch mit drei Sportjournalisten und der eine erklärt dir, wie nett dich der andere findet. Um abzulenken, kannst du von Fußball reden – oder von Politik. Bei beiden Themen wallen die Gefühle auf. Das erste ist durchaus positiv und mit Stolz durchtränkt: Immerhin hat das Istanbuler Team Fenerbahce erst vor wenigen Tagen Chelsea geschlagen. Bei der Politik aber – uffuffuff, wie manche Türken seufzen. Die drei Männer sind Kemalisten, und auch darauf verweisen sie mit Stolz. „Wenn du an die Türkei denkst: Welcher große Name fällt dir als erster ein?“ fragt C. Und antwortet gleich selbst: Mustafa Kemal Atatürk. Für den würde er sein Leben hingeben, sagt er. C. ist 26 Jahre alt, und er würde für Atatürk sterben. Der Republikgründer ist seit 70 Jahren tot, aber weiterhin allgegenwärtig – nicht nur deswegen, weil sein Porträt in allen öffentlichen Räumen zu sehen ist sowie auf allen Geldmünzen und –scheinen prangt. An seiner Person werden auch unzählige politische Debatten aufgehängt. Für manche Kemalisten ist dabei die Argumentation recht einfach: Sie hüten die Prinzipien von Säkularismus und Modernisierung, wie es Atatürk aufgetragen hat. Sie formulieren es auch so. Die regierende Partei AKP hingegen verrät diese Leitlinien. Das Kopftuch-Verbot an Universitäten soll fallen? „Das ist für uns absolut unakzeptabel“, stellt C. klar. „Wir sind nicht der Iran“, fügt U. hinzu. „Wir werden das nicht zulassen.“
U. hat auch eine Erklärung dafür, warum fast die Hälfte der Türken die AKP gewählt hat. „Die Leute sind wie Schafe. Sie folgen dem, der sie ruft. Viele haben keine Bildung, noch dazu sind ihre Stimmen gekauft.“
A. hat sich während der Diskussion stark aufs Biertrinken konzentriert und will die Debatte abschließen: „Scheiß auf die Politik.“ Ein Lokalwechsel steht an.

Die naechstgelegene Baustelle

Schlafen ist in Istanbul zum Abgewöhnen. Nicht nur wegen der Lokale, der kleinen Kneipen und feinen Clubs, die es unmöglich machen einfach am Abend heimzugehen, selbst wenn der beste Vorsatz da ist. Nicht nur wegen des Verkehrslärms und des Gehupes, das schon so früh beginnt, dass es verwunderlich ist, wie viele Menschen schon wach sind. Auch wegen der Bauarbeiten. Die können gar kein Ende nehmen in einer Stadt, die ständig wächst. Die nächstgelegene Baustelle ist fünf Meter von meinem Hotelzimmer entfernt. Ein altes Gebäude wurde abgerissen, ein neues muss her. Gebaggert wird auch in der Samstagnacht, um Mitternacht, um eins, um zwei. Das Schürfen in der Erde, das Piepsen des zurücksetzenden Lkw, die Schreie an den Fahrer „Gel, gel!“ – „Komm!“: Es ist unentwegt zu hören.
Am Sonntag Vormittag ist die Baustelle eine der größeren Attraktionen in den umliegenden zwei, drei Gassen. Ein halbes Dutzend Männer sieht den Arbeiten zu, raucht Zigaretten, kommentiert. Ein Page aus einem der umliegenden Hotels steht in seiner rotgoldenen Uniform vor einem Steinhaufen. Einer aus dem Publikum hilft ein paar Bretter über die Baustelle zu tragen, ein anderer legt mit Hand an, um die schwere Plastikplane zu befestigen, die über den mit Erde befüllten Lkw gelegt wird. Auf einmal fängt es an zu nieseln. Behäbig gehen die Männer auseinander, ohne Eile schlendern sie weiter, die Hände in den Hosentaschen. Die kleinen Teehäuser füllen sich.

Nicht kommunizieren geht nicht

Diese Stadt ist nicht zu fassen. Istanbul, der Kosmos mit seinen 15, vielleicht auch 20 Millionen Einwohnern, mit seinen osmanischen Legenden, seinen Verfallserscheinungen und dem gierigen Wachstum, den Klischees rund um den Orientexpress und die Hippies, die in den 60er-Jahren hier auf ihrem Weg nach Indien Halt machten. Im Grunde ist es aber auch eine Ansammlung vieler Städtchen und vieler kleiner Geschichten. Und gäbe es eine Steigerungsform von unmöglich, wäre es in Istanbul unmöglicher nicht zu kommunizieren als in vielen anderen Städten.
Wie in einem Dorf, wo sich ebenfalls viel Leben auf der Straße abspielt, ist es in den einzelnen Vierteln so gut wie ausgeschlossen, keinem Freund, Cousin oder Kollegen zu begegnen. Die Zeitungslektüre vor dem Teehaus wird für eine Plauderei unterbrochen, der Gehilfe wird ums Eck zum Zigarettenholen geschickt.
Die Anonymität der Großstadt ist in den gläsernen Geschäftsvierteln zu finden, aber auch dort kann es vorkommen, dass durch die Straßen eilende Geschäftsleute stehen bleiben, weil sie einen Bekannten getroffen haben. Ein „Merhaba“, ein Hallo und kurzes Händeschütteln reicht da nicht, ein paar Sätze muss man schon wechseln.
Im Stadtteil Sultanahmet – das viele Reisende nicht einmal verlassen, weil dort Sehenswürdigkeiten wie die Hagia Sophia oder der Große Bazar sind – gibt es vor den Lokalen eigene Kommunikationsbeauftragte. Sie sollen Touristen dazu bringen, in das Restaurant reinzukommen. Sie müssen mit allen Mitteln die potenziellen Kunden in ein Gespräch verwickeln – und sei es, indem sie eine Schwester erfinden, die (welch Zufall!) den gleichen Namen trägt wie die Vorbeigehende.
Die Familie kommt auch beim Handeln oft ins Spiel. Im Geschäft zeigt sich der Verkäufer unglücklich, dass seine Kinder verarmen, wenn er mit dem Preis so weit runtergeht. Im Hotel gibt es einen Preisnachlass, „den nicht einmal mein Vater bekommt, wenn er mich besucht“, sagt der Rezeptionist. Das Feilschen, das Übertreiben und Überreden, das Verdienen wollen: Wo viele Menschen hinkommen, gehört es dazu.