Montag, 26. Mai 2008

'Auch Van aendert sich'

Van, die sagenumwobene Stadt, muss einmal ein magischer Ort gewesen sein. Auf einem Berghügel gebaut, blickte sie auf den gleichnamigen See hinunter. Rundherum erstrecken sich Berge, auf deren Gipfeln teilweise noch Ende Mai Schnee liegt. Doch die Felder darunter sind grün, Schafe finden hier genug Nahrung. In Van drängten sich Kirchen und Moscheen zwischen den niedrigen Häusern in verwinkelten Gassen. Es gibt davon eine Fotografie, die ein deutscher Architekt vor etwa hundert Jahren gemacht hat. Urartäer, Seldschuken, Perser, Osmanen, Kurden und vor allem Armenier prägten das Stadtbild. Doch 1915, als Türken und Russen um die Vorherrschaft kämpften, kam es zu einem Aufstand der Armenier. Kurz darauf wurden sie vertrieben, viele von ihnen ermordet. Die Stadt wurde niedergemacht. Nur noch Ruinen der alten Festung, ein Minarett, eine Grabstätte und ein paar Inschriften auf einem Felsen zeugen von der tausende Jahre währenden älteren Geschichte Vans.
Das neue Van wurde etwa fünf Kilometer weiter östlich neu aufgebaut. Es war auf 150.000 Menschen ausgelegt; mittlerweile ist es auf mehr als 600.000 Einwohner angeschwollen. Kurden, die im Zuge des Kampfes gegen die PKK aus ihren Dörfern vertrieben wurden, sind hier ebenso gestrandet wie iranische Flüchtlinge. Die Grenze zu ihrem Land ist gerade einmal 90 Kilometer weit entfernt.
Einen Job zu finden, ist nicht einfach. Manche Männer gehen in der Früh zu einem Treffpunkt beim Basarviertel, wo sie von Vermittlern für einen Tag angeheuert werden, um etwa auf dem Bau zu arbeiten. Manche schicken ihre Kinder zur Arbeit. So arbeiten auch dreizehnjährige als Laufburschen in Geschäften oder Restaurants. Auf der Straße bieten kleine Buben Taschentücher oder geschmuggelte Zigaretten zum Kauf an, gehen mit einer schmutzigen Waage hausieren, auf der sich potenzielle Kunden wiegen lassen können. Das meiste Leben spielt sich an der Straße der Republik ab, mit ihren Geschäften, Lokalen und Internet-Cafes. Wunderbar sind die „Frühstücks-Salons“, wo es den mit Kräutern verfeinerten Otlu-Käse, cremigen Honig, Eierspeise mit Tomaten und endlos Tee gibt.
Die Straßen sind voller Männer, die Ausländerinnen anstarren. Frauen, viele mit Kopftuch, sind weit seltener zu sehen, nach zehn Uhr abends so gut wie gar nicht. In zahlreichen Lokalen gibt es Abteilungen nur für Männer, mit Glück auch eine Sektion für Familien. Noch immer gehen viele Frauen nicht arbeiten, bleiben zu Hause mit den Kindern.
Doch auch in Van ändert sich einiges, sagt mir M., ein 28-jähriger Kunststudent. Vor fünf Jahren noch wäre das nicht möglich gewesen, erklärt er und deutet zuerst auf sein Flinserl, dann auf sein Ziegenbärtchen. Ein junges Ehepaar, das ich kurze Zeit später in einem Lokal kennenlerne, bestätigt das. „Vor ein paar Jahren hätte ich nicht so einfach am Abend zusammen mit meiner Frau auf ein Bier gehen können“, versichert S.
Dennoch sind M.s fünf Schwestern – er hat auch noch zwei Brüder – alle verheiratet und Hausfrauen. Als eine auf die Universität wollte, hat der Vater es nicht erlaubt. Wozu sei das denn notwendig? M. mag seinen Vater nicht besonders, er teilt dessen Einstellung nicht. Immer dieses Beten, alles als Schicksal hinnehmen, ob Kinderzahl oder Krankheit – damit kann M. wenig anfangen. Was er allerdings nach dem Studium macht, weiß er selbst noch nicht so recht. Am liebsten sei ihm Malen und Trinken, sagt er und lacht. Doch von Van aus als Maler zu reüssieren, sei unmöglich. Die Zukunft werde es weisen. Sich aber nur aufs Schicksal verlassen – das will M. nicht.

Die Amerikaner sind schuld

Mit zwei Studenten und einem Anwalt aus Istanbul fahre ich in einem Minibus ins Sümela-Kloster, das etwa 40 Kilometer von Trabzon entfernt in einen Felshang gehauen wurde. Die Landschaft am Schwarzen Meer ist eine saftige, die Berge sind mit Wald bewachsen. Oft sind sie in Nebel getaucht, das Klima ist feucht. Es ist eine der wichtigsten Regionen für Haselnuss-Anbau in der Türkei; unweit von Trabzon gibt es sogar ein Haselnuss-Forschungsinstitut. Ö., der Chauffeur, liebt diese Gegend. Er ist hier geboren, hat aber 30 Jahre lang in Istanbul gewohnt und als Lkw-Fahrer gearbeitet. Doch dann hat er seine Wohnung verkauft und ist vor drei Jahren wieder nach Trabzon gezogen. „Hier ist die Luft besser, und die Menschen sind es auch“, sagt Ö. Hier würden Tomaten und Gurken besser gedeihen als anderswo; das Gemüse sei so gesund, dass du keine Medikamente brauchst. Und die Menschen: „Ich habe in Istanbul in 30 Jahren nur drei echte Freundschaften geschlossen. Hier aber kenne ich so viele Leute, und wir sind alle Freunde.“
Doch die Arbeitslosigkeit sei ein Problem. Wie viele Menschen können schon vom Haselnuss-Anbau leben? Auch Fischer hätten es zunehmend schwer, weil es immer weniger Fische gebe. „Hier kannst du nur als Beamter oder Lehrer arbeiten“, meint Ö. In dem Dorf etwa, wo er seine Kindheit verbracht hat, sind fast alle Lehrer.
Ö. macht mittlerweile keine langen Strecken mehr. Trabzon-Macka-Sümela: Fahrten in einem Radius von 50 Kilometern reichen ihm. Er selbst steigt ungern in einen Autobus. „In der Türkei sterben im Schnitt 50 Menschen täglich im Straßenverkehr“, erklärt er. Für lange Strecken nimmt er da lieber das Flugzeug. Der Anwalt ergänzt, dass es vor 30 Jahren noch gute Seeverbindungen gegeben hat im Schwarzen Meer. Doch dann hätten die Regierungen auf Druck der Amerikaner enorm viel Geld in den Straßenbau gesteckt, hätten den Betrieb zahlreicher Fähren eingestellt und den Ausbau des Eisenbahnnetzes völlig vernachlässigt. „Die Amerikaner“, glaubt Ö. „wollen nur, dass wir ihre Autos kaufen und bei ihnen Kredite aufnehmen.“
Die Überzeugung, dass so vieles fremdgesteuert ist, dass ihr Land von anderen Mächten beeinflusst werde, ist bei Türken immer wieder zu finden. Es ist ein guter Boden für Verschwörungstheorien. Und manche entpuppen sich sogar als wahr. Militärs planen Staatscoups – und haben schon manches Mal welche ausgeführt. Es gibt einen Geheimdienst, den es offiziell gar nicht gibt. Polizisten können dich an jeder Straßenecke aufhalten und nach deinem Ausweis fragen. Extreme Nationalisten geben Morde an kurdischen Aktivisten in Auftrag. Dass auch andere Länder mitspielen und ihre Interessen in der Türkei verfolgen, scheint da gar nicht so weit hergeholt.

Aus der Provinz

Auf der einen Seite das Schwarze Meer, auf der anderen die Ausläufer des Pontischen Gebirges: In einem Halbrund erstreckt sich die nordtürkische Hafenstadt Trabzon mit ihren rund 200.000 Einwohnern. Mehrstöckige moderne Apartmenthäuser schmiegen sich aneinander und die Hänge empor. Tiefer gelegen ist die Altstadt; sie ist vom Terrassencafe im sechsten Stock eines gläsernen Bürogebäudes am Atatürk-Platz ebenso zu sehen wie schneebedeckte Berggipfel in der Ferne.
Trabzon versprüht den Charme einer Provinzhauptstadt. Einige alte Häuser sind renoviert und herausgeputzt. Die Ayasofya mit ihren Fresken und dem angeblich einzigen auf türkischem Boden verbliebenen byzantinischen Kirchenturm liegt in einem gepflegten Garten. Im Park sitzen Männer vor Teehäusern auf Plastiksesseln; in der Fußgängerzone flanieren junge Mädchen mit auf die Kleidung farblich abgestimmten Kopftüchern. Nach dem Unterricht schlendern 14-jährige in ihren Schuluniformen durch die Straßen; Laufburschen aus den Restaurants tragen auf Tabletts Teller mit Essen in danebenliegende Geschäfte.
Und dann gibt es noch die Billigabsteigen in Hafennähe, die vorwiegend als Stundenhotels genutzt werden. Etliche Frauen aus Russland und anderen Ex-Sowjetrepubliken arbeiten hier als Prostituierte. Um fünf in der Früh gehen sie müde heim, kaufen noch schnell im Kiosk ums Eck Zigaretten und wechseln ein paar Sätze auf Türkisch mit dem Verkäufer.
Unter den historischen Brücken, in den Gräben zwischen den alten Stadtmauern ducken sich ärmliche Viertel, die teilweise schon großzügig angelegten Parkanlagen weichen mussten. Kinder in abgetragenen Kleidern spielen auf Schotterhaufen zwischen den verfallenden Häusern, über deren flachen Dächern Wäscheleinen gespannt sind. S. wird mir später entrüstet erklären, dass die Menschen dort teilweise nicht einmal türkisch können, sondern nur kurdisch.
Keiner der Studenten, die ich kennenlerne, mag Trabzon. Warum aber, können sie mir nicht so recht erklären. Es hat sie aus Gaziantep, Ankara oder Adana an die Karadeniz Technische Universität verschlagen. Sie sind entweder hier, weil einige Fakultäten der Hochschule – wo an die 45.000 Studenten inskribiert sind – einen guten Ruf genießen oder weil die Punktezahl bei der Aufnahmeprüfung nicht für eine andere Universität gereicht hat. S., eine hübsche quirlige Mathematik-Studentin, die oft und laut lacht, warnt mich vor den Männern in Trabzon. Die in kleinen Grüppchen Herumziehenden und in die Gegend Stierenden nennt sie Haie. M. wiederum, der Maschinenbau studiert, findet, die Stadt sei vor allem eines: fad.
Auf dem Balkon aber sitzen die Studenten gern. So nennen sie die halbrunden betonierten Flächen im Park auf dem Campusgelände. Als wir zu sechst nach einem Open-Air-Konzert vor der Universität dorthin kommen, ist es nach Mitternacht. Von dem kleinen Hang aus beobachten wir die letzten Flugzeuge, die auf der Landebahn gegenüber dem Campus aufsetzen. Hinter den Lichterketten des Flughafens ist die Dunkelheit des Meeres. S. stimmt ein türkisches Lied an, die anderen schließen sich an. Es folgen die nächsten schwermütigen Weisen. Wieder einmal handeln die meisten von Liebe.

Sonntag, 18. Mai 2008

Das 'hüzün'-Gefühl

Ob ich es auch spüre? Mit B., dem der Esoterik nahe stehenden Klarinettisten, sitze ich in einem der Lokale rund um Tünel, der den Abschluss der Istiklal Caddesi bildet. Diese Gegend habe ungeheuer viel Energie, erklärt mir B. Hier tue sich auch sehr viel. (Das habe ich nach einem nicht unbedingt an Schlaf reichen Monat im Kneipenviertel von Beyoglu auch schon bemerkt.) Seit tausenden von Jahren wollten die Menschen sich hier ansiedeln, kämpften miteinander um den Platz. Hier haben die Europäer ihre Häuser gebaut, die Griechen ihre Kirchen errichtet, die Juden und Armenier ihre Geschäfte eröffnet. Damit können die meisten türkischen Einwanderer von heute – und es sind derer so viele, dass ein Istanbuler Politiker einmal halb im Scherz laut über Visa für die Stadt nachgedacht hat – nichts anfangen, meint B. Sie spüren es nicht.
Es ist aber auch viel verlorengegangen. Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches, im Zuge des wachsenden und geschürten türkischen Nationalbewusstseins, nach den Vertreibungen vieler Griechen hat auch Istanbul einiges an kultureller Vielfalt eingebüßt. Die Kirchen werden kaum gepflegt; die Häuser, in die arme Familien aus dem Osten eingezogen sind, verfallen. Und noch etwas bedauert B.: den Verlust für die Literatur durch die Umstellung auf das lateinische Alphabet (für die ich persönlich Atatürk äußerst dankbar bin). Die alte Sprachmelodie lasse sich nicht so einfach übertragen; viele osmanische Werke seien gar nicht ins Türkische übersetzt worden. „Im Westen habt ihr eine Kontinuität, eine Entwicklung in der Literaturgeschichte“, sagt B. „Bei uns hat es einen Bruch gegeben. Wir haben keinen Dostojewski, und Schriftsteller wie Pamuk gibt es erst seit einigen Jahren. Unsere jetzige Literatur blickt gerade einmal auf 70 Jahre zurück.“
Da ist es wieder, dieses „hüzün“-Gefühl. Die Melancholie, die auch Orhan Pamuk beschreibt, verspüren nicht nur ältere sondern auch 28-jährige Istanbuler wie B. Es ist diese leise Trauer ob des Verlustes eines prächtigen Reiches, einer wie verzauberten Stadt, die mittlerweile zu einer Metropole mit vielleicht 20 Millionen Einwohnern angeschwollen ist. Es ist das Bedauern darüber, dass der frühere Glanz für immer verlorengegangen ist, dass der alte Charme nicht mehr zu finden ist und stattdessen die Vernachlässigung überall sichtbar wird.
Das könnten Wiener genauso gut verspüren, wenn sie die kaiserlichen Bauten am Ring betrachten. Oder die Warschauer, die ihre Stadt nach 1945 komplett neu aufbauen mussten. Wie so viele andere Orte in Europa wurden diese beiden Städte nach den Morden und Vertreibungen im Zweiten Weltkrieg nie wieder so wie früher.
Dennoch scheint das „hüzün“-Gefühl sich am Bosporus besser entfalten zu können. Es gehört zum „Echter-Istanbuler“-Sein dazu.

Ein Sonntag am Fluss

Das Büfe gegenüber, der Kiosk, wo es neben Zeitungen und Zigaretten auch Käse, Milch und Süßigkeiten zu kaufen gibt, kennt keinen Ruhetag. Ob Montag oder Samstag: Bis in die Morgenstunden steht der Besitzer hinter der Theke und manchmal vor der Tür. Auch der weißbärtige Schuhputzer ums Eck sitzt jeden Tag auf seinem wackeligen Schemel und poliert seinen Kunden die Schuhe. Dennoch scheint sich das Tempo in Beyoglu an einem Sonntag zu verlangsamen. Die Frisörläden füllen sich mit Männern, die sich um einen Euro rasieren lassen. Die nassen Handtücher trocknen auf Wäscheständern auf dem Gehsteig. Der Duft von Rasierwasser vermischt sich mit dem Gestank des Mülls, der unter den Hauseingang eines verlassenen Gebäudes gekehrt wurde. Vor den Teehäusern sitzen 50-Jährige auf Kindersesseln (wie A. die niedrigen Hocker nennt) und lesen die Sonntagszeitung. Auf der Istiklal Caddesi flanieren händchenhaltende Pärchen und laut lachende Teenager.
Ein guter Tag, um an den Bosporus zu gehen, dachte ich mir. Ein Spaziergang am Ufer entlang, ein wenig Grün, Vogelgezwischer und so weiter. Das war der Plan. Den hatte allerdings nicht nur ich gefasst. Hunderttausende Menschen zieht es am Wochenende an den Bosporus. Die Energie, die die laute pulsierende Stadt raubt, gibt der Fluss wieder zurück. Familien packen ihre Picknickkörbe und machen eine Bosporus-Fahrt oder steigen ins Auto und suchen ein Plätzchen, um den Grill aufzustellen. Oder sie marschieren zu den paar Stellen, die den Blick auf den Fluss freigeben. Denn eine längere Uferpromenade gibt es zwischen Besiktas und Ortaköy auf der europäischen Seite nicht. So dränge ich mich mit all den tausenden anderen Menschen auf den Gehsteigen links und rechts der vierspurigen Straße, auf der die Autos im Stau stecken und hupen. Auf der einen Seite eine meterhohe Betonwand, hinter der sich Paläste verstecken. Auf der anderen Seite eingezäunte Grünflächen, die sich den Hügel rauf ziehen und militärisches Sperrgebiet oder versperrtes Universitätsgelände sind. Auf dem Gehsteig ein Hürdenlauf: den spärlich gesetzten Bäumen und Entgegenkommenden ausweichen, die Langsam-Spaziergeher überholen. Eine Stunde geht es so dahin, denn auch auf den Gehsteigen bildet sich Stau.
Endlich kommt Ortaköy, der kleine Stadtteil rund um die barocke Moschee, der sich im Schatten der Hängebrücke über den Bosporus duckt. Auf der Piazza vor der Fähranlegestelle scheuchen die vorbeiziehenden Menschen die Tauben auf. Die Eintreiber vor den zahlreichen Lokalen preisen die Terrassen an, die in den engen Häusern über steile Treppen zu erklimmen sind. Und dann sitzt du dort und beobachtest, wie Yachten, Ausflugsboote, Containerschiffe und Tanker ihre in der untergehenden Sonne schimmernden Spuren durch den Bosporus ziehen. Auf der gegenüberliegenden asiatischen Seite gehen die ersten Lichter an. Die Dämmerung sinkt auf die Stadt. Und in der Nacht verwandelt sich Istanbul in ein blinkendes Lichtermeer, das durch die dunkle Schleife des Bosporus geteilt wird. Die Hängebrücke, die Europa und Asien verbindet, erstrahlt in Dutzenden Farben: Die Lampen wechseln von Rot zu Grün, zu Blau, zu Violett. Wie eine Perlenkette mit unzähligen senkrecht fallenden Schnüren schwebt das beleuchtete Brückengeländer über dem Fluss.

Türkische Maenner und auslaendische Frauen

Neben den politischen und wirtschaftlichen Aspekten gibt es da noch eine Frage, die mich beschäftigt: Warum glauben so viele türkische Männer, dass die meisten Ausländerinnen Schlampen sind? A. hat eine interessante Theorie entwickelt: Im Harem des Sultans waren viele Sklavinnen zu finden. Doch muslimische Frauen durften nicht versklavt werden, also waren es zum Beispiel Griechinnen. Vielleicht rührt das sexuelle Interesse an Ausländerinnen noch aus der Zeit? Doch A. ist eine Frau, und daher ist ihre Erklärung eine rationale. Um die – nennen wir’s – Emotionen zu ergründen, habe ich eine kleine Umfrage unter türkischen Männern gestartet.
O., ein Architekt, der sich eine Ukrainerin zur Frau genommen hat (die seit ihrer Ankunft in Istanbul ziemlich unglücklich ist, weil sie bei seinen Eltern wohnen muss und alleine so gut wie gar nicht außer Haus gehen soll), findet: „Mit Ausländerinnen ist es leichter. Türkische Frauen sind komplizierter: Wir geben alles für sie, und sie erhören uns nicht.“ Heißt das, Ausländerinnen seien leichter zu haben? Nein, nein, so habe er das nicht gemeint, dementiert O. Türkische Männer stieren Frauen halt an.
S., der in einer Bank arbeitet, sieht die fehlende Bildung als Ursache. Wenn die Menschen gebildeter sind, Bücher lesen, ins Kino gehen, reisen und mehr kennenlernen als ihre kleine Welt, dann entwickeln sie auch ein normaleres Verhältnis zu Leuten aus anderen Ländern. Und kurze Zeit später legt S., der Bücher liest, ins Kino geht und reist, mir seine Hand auf den Oberschenkel.
B. wiederum, ein Musiker mit Hang zu Esoterik, erklärt mir, dass ich schon selber wie eine türkische Frau klinge. Ich würde nämlich ebenfalls so viel hinterfragen, obwohl doch den Menschen etwas mehr Naivität gut tun würde. Dann aber versucht B. doch, eine Antwort auf meine Frage zu finden. Türken hätten teilweise einen Sexualkomplex, sagt er. Einerseits mühen sie sich, westliche Muster anzunehmen, auf der anderen Seite aber sind sie in alten Strukturen gefangen. Sie wollen, können aber nicht so, wie sie möchten. Außerdem war in der osmanischen Zeit Vielweiberei gang und gäbe. Das wirke noch fort. Ist zwar keine Entschuldigung, würde aber A.s historische Theorie unterstützen.
M. jedoch, ein Kellner, der seine Berufung in der Schauspielerei sieht und „nur übergangsweise“ in einer Bar arbeitet, meint, es sei gar nicht so. Keinesfalls würden Ausländerinnen alle als Schlampen angesehen. Dann schaut er mir tief in die Augen und fragt, ob ich mit zu ihm komme.

Auf dem Heimweg

Gedränge auf der Fähre nach Kadiköy. Es ist halb sieben abends, ein Wochentag, die Menschen fahren von der Arbeit heim, auf die asiatische Seite. Die langen Holzbänke auf dem offenen Oberdeck sind bis auf den letzten Platz gefüllt. Die meisten Reisenden sind ermüdet, sie haben vielleicht noch einen langen Weg vor sich. In Kadiköy besteigen sie einen der Busse oder Minibusse und fahren noch eine Dreiviertelstunde in eine der Hochhaussiedlungen, die auf den Hügeln südlich des Bosporus eilig hochgezogen wurden. Dort ist es ruhiger als auf der europäischen Seite, weniger gedrängt, grüner. Dort haben sich auch mehr Migranten aus Ostanatolien angesiedelt, haben ihre vom Patriarchat geprägten Strukturen mitgebracht und ihre Kopftuch tragenden Frauen nachgeholt. Doch finden sich dort auch schicke Viertel wie Kadiköy selbst, mit seinen zahlreichen Lokalen, eleganten Einkaufsstraßen und dem am Mittelmeer gelegenen Park, in dem sich im Schatten der Nacht Liebespaare küssen.
Für die Menschen auf der Fähre ist die Überquerung des Bosporus der tägliche Weg, in die Arbeit und dann wieder nach Hause. Was sie dabei sehen, übt für die meisten keine Faszination mehr aus. Gleichgültig gleitet das Auge an der Silhouette Istanbuls vorbei, am Stadtteil Beyoglu mit dem markanten Galata-Turm, an der Landesspitze mit dem weitläufigen Topkapi-Palast, hinter dem sich Hagia Sophia und Sultanahmet-Moschee erheben, an den Tankern, die auf die Überfahrt warten.
Die Stadt hat so viele nicht wegen ihrer Sehenswürdigkeiten angezogen, sondern wegen der Arbeitsmöglichkeiten. Die Banken, die Unternehmen, die ausländischen Vertretungen haben ihren Sitz in Istanbul. Menschen, die ihr Geld in Lokalen ausgeben wollen, brauchen Kellner, Köche und Sänger. Die haben in der Woche nur selten mehr als einen freien Tag, und ein Arbeitstag hat leicht 12 Stunden. Das Mindestgehalt in der Türkei beträgt an die 230 Euro, davon ist eine Wohnung in Istanbul kaum zu haben. Die Menschen weichen auf die asiatische Seite aus, wo die Unterkünfte billiger sind. In den noblen Vierteln auf der europäischen Seite kostet allein die Miete im Monat so viel wie ein kurdischer Muschelverkäufer in einem halben Jahr verdient. Bis spät in die Nacht steht der Mann a einem Straßeneck an der Istiklal Caddesi, bietet dem durch die Lokale ziehenden jungen Publikum die mit einer Reispaste gefüllten Muscheln an. Wenn ein Grüppchen stehen bleibt, sucht er ein paar Muscheln aus, öffnet sie, beträufelt sie mit Zitrone, reicht eine nach der anderen seinen Kunden, die gleich essen, zahlen und ins nächste Beisl gehen. Erst um drei, vielleicht vier Uhr nachts räumt der Verkäufer zusammen, nimmt das riesige Blechtablett vom hölzernen Ständer, klappt diesen zusammen, klemmt ihn unter den Arm und macht sich auf seinen Heimweg.

Donnerstag, 1. Mai 2008

Mit Gasmasken zur Arbeit

Am 1. Mai nehmen Kameraleute und Pressefotografen Gasmasken mit zur Arbeit. Denn da gibt’s in Istanbul Wickel. Demonstrationen auf dem zentralen Taksim-Platz sind verboten. 1977 wurden dort bei der Mai-Kundgebung 35 Menschen getötet, durch Schüsse aus einem der umliegenden Hotels und zu Tode getrampelt in der danach entstandenen Panik. Drei Jahre später, nach einem Militärcoup, wurde der 1. Mai als Feiertag abgeschafft. Das Tauziehen zwischen den Gewerkschaften und der Regierung um den 1. Mai währt seit damals; der Kampf um den Taksim-Platz hat sich in den vergangenen Jahren verschärft.
Die Gewerkschaften haben angekündigt, trotz Verbot mit hunderttausenden Menschen zum Taksim-Platz zu ziehen. 30.000 Polizisten stehen dort bereit. Der sonst verkehrsumtoste Platz, zu dem sechsspurige Straßen führen, ist abgeriegelt; keine Autos, keine Menschen werden durchgelassen. In Autobussen und teils in Flugzeugen wurden die Polizisten dort hingekarrt. Sie tragen Helme und panzerartige Westen, die Gasmasken und Gummiknüppel halten sie bereit. Auf der Istiklal Caddesi, wo sonst von Taksim aus ein Meer an Köpfen zu sehen ist, haben sie mehrere Blockaden aufgebaut. In den Kaffeehäusern und Kiosken sind die Rollos runtergelassen. Die Tischchen vor den Lokalen sind verschwunden. Polizeihubschrauber kreisen über der Stadt.
Obwohl die Gewerkschaften am späten Vormittag – nachdem die Polizei eine Demonstration in einem anderen Stadtteil mit Tränengas und Wasserwerfern aufgelöst hat – ihren Plan aufgeben, zum Taksim-Platz zu ziehen, versuchen einzelne Gruppen durchzudringen. In einer der engen Gassen, die zur Istiklal führen, formieren sie sich. Es sind großteils junge Menschen. Knapp vor der Istiklal entrollen sie ein rotes Transparent und beginnen zu skandieren. Ein paar Jugendliche auf der Istiklal applaudieren. Einer hebt einen Stein vom Boden auf, zerschlägt ihn in zwei Hälften, steckt sie in die Hosentaschen. Sekunden später – die Gruppe ist auf der Istiklal angelangt – fliegen Flaschen und Steine auf die umliegenden Gebäude, der nächstgelegene Polizeitrupp hat sich in Bewegung gesetzt, ich spüre das Tränengas. Mit einem Fotografen ducke ich mich in einem Hauseingang. Die Bewohner lugen hinter der verschlossenen Haustür hervor. Auf einmal rennt ein Grüppchen von Menschen an uns vorbei, einige flüchten in das danebengelegene Kaffeehaus. Die Gäste dort lassen die Tür offen, damit die Menschen reinkönnen. Doch dahinter rollen schon die Polizisten heran. Sie rauschen an uns vorbei, und ich frage mich, ob ich auch Prügel abbekomme, weil die Gummiknüppel völlig wahllos zuschlagen. Einige Polizisten stürmen in das Kaffee, treiben die Menschen auf die Straße, packen einige am Kragen, schlagen um sich. Ein Mann, dem das Blut über die Stirn rinnt, stolpert, kniet auf dem Boden. Ein Polizist drischt weiter mehrmals auf ihn ein, auf die Brust, den Rücken. Eine junge Frau schreit und weint; ein Kameramann läuft zu ihr hin, um eine Großaufnahme von ihrem Gesicht zu machen. Sie wendet sich ab, schreit ihn an. Mehrmals hebt das Gebrüll der Polizisten und Demonstranten an, schwillt wieder ab. Mehrmals laufen noch Menschengruppen hustend und mit verschwollenen Gesichtern durch die Gassen vor den Tränengas-Schwaden davon.
Am späten Nachmittag erst ziehen die Demonstranten und Polizisten ab und die Flanierenden in die Istiklal wieder ein. Am Abend ist die gläserne Front von Benetton, die Steine fast zertrümmert hätten, wieder repariert. Die Polizei soll an diesem Tag 1700 Tränengasbomben verbraucht haben.