Freitag, 9. Januar 2009

Auf dem Dampfer

Am frühen Sonntagnachmittag ist das Oberdeck auf der Fähre von Eminönü nach Kadiköy auf der anatolischen Seite Istanbuls voll besetzt. Es ist ein sonniger, noch warmer Tag. Die auf den weiß bestrichenen Holzbänken sitzenden Menschen warten auf die Abfahrt der ehemaligen Dampfer, die schon seit Jahren nicht mehr mit Kohle angetrieben werden. Junge Ehefrauen mit Kopftüchern wiegen ihre Kinder im Schosz; die Ehemänner kaufen Tee in kleinen Tulpengläsern, die die ihre Ware laut anpreisend herumgehenden Kellner auf runde Aluminiumtabletts gestellt haben. Ein Vater zeigt seinem Sohn etwas über ihren Köpfen. Über der hellen Plastikplane, die über das Deck gespannt ist, bewegt sich etwas: zwei kleine Flecken in Rhomben-Form. Sie sehen aus wie Blätter im Wind oder zwei nebeneinander fliegende Schmetterlinge, die sich kurz niederlassen, wieder hochflattern und sich gleich darauf wieder niederlassen. Es sind die Füße von Möwen, die über die Plane spazieren. Als sich die Fähre langsam und tuckernd in Bewegung setzt, bleiben die Vögel auf dem Schiff stehen. Der Wind zerzaust ihre Flaumfedern.
Die Fähren über den Bosporus, die den europäischen mit dem anatolischen Teil Istanbuls verbinden. Manche von ihnen sind 50 Jahre alt, und viele von ihnen sehen noch älter aus. Doch sind sie keine Nostalgie-Dampfer für Touristen sondern öffentliche Verkehrsmittel, die den zur Arbeit Fahrenden die tägliche Warterei vor der Bosporus-Brücke ersparen, wo sich nicht nur am Morgen und am Nachmittag die Autos und Autobusse stauen. So ändert sich die Atmosphäre auf den Fähren je nach Tageszeit. Die Ruhe in der Früh und am Vormittag ist eine andere als die am Abend. In der Früh lesen Männer in Anzügen teetrinkend die Zeitung, die sie auf dem Weg zur Anlegestelle gekauft haben; führen Frauen mit sorgfältig geschminktem Gesicht und modischem Haarschnitt Telefongespräche über ihr Handy; bereiten sich Studenten mit Büchern auf ihren Knien auf ihre Vorlesungen vor. Am Abend ist die Müdigkeit in den Gesichtern der Reisenden zu sehen. Manche unterhalten sich träge untereinander, manche schauen mit stumpfem Blick in die Dunkelheit des Meeres. Die meisten sitzen im geheizten Innenraum, aber einige haben auf den Bänken längs des Unterdecks Platz genommen, nur knapp über den Wellen, die das Schiff in das Wasser pflügt und rauchen dort eine Zigarette, auch wenn es mittlerweile offiziell verboten ist. Nach zehn oder mehr Stunden Arbeit kehren sie auf die anatolische Seite zurück, einige von ihnen haben noch eine stundenlange Busfahrt vor sich in eine der eilig hochgezogenen Wohnsiedlungen auf den Hügeln südlich des Bosporus.
Noch bevor der Dampfer beim alten Bahnhof in Haydarpasa anlegt, stehen die Menschen schon ungeduldig vor der Reling. Das Schiff wird langsamer, der Länge nach steuert es auf die Anlegestelle zu, die Stehenden wanken, suchen ihr Gleichgewicht nicht zu verlieren. Der Vertäuer wartet schon am Ufer, um das dicke Seil aufzufangen, das ihm vom Dampfer aus zugeworfen wird. Kaum hat er das Tau zwei-, dreimal um einen der Poller gewickelt, schon springt ein Passagier mit einem großen Satz über die Bordkante auf die Anlegestelle. Er hat es eilig, vielleicht muss er einen Zug erreichen. Das Schiff ist noch nicht zur Ruhe gekommen, das Heck dreht sich ein wenig zur Meeresseite. Das Seil spannt sich, knirscht. Der Vertäuer zurrt es mit geübten schnellen Bewegungen fest; ein anderer Mann schiebt zwei hölzerne Stege über die Bordkante. In Zweierreihen drängen die Menschen über den Steg, schieben sich in kleinen Schritten dem Ufer entgegen, rempeln einander, hasten schließlich – sobald sie festen Boden unter den Füßen haben – in einem breiten Strom davon.
Vor den Glastüren der Anlegestelle wiederum hat sich die nächste Menschentraube gebildet. Aneinandergepresst warten die Passagiere, bis die Aussteigenden das Schiff verlassen haben. Für das Gedränge gibt es keinen Grund; die Fähre bietet Platz für alle, keiner würde zurückgelassen werden. Dennoch treten die Menschen vor der Tür von einem Fuß auf den anderen, Minuten bevor die Fähre überhaupt noch angelegt hat. Kaum haben die einen den Dampfer verlassen, schon gehen für die anderen die Türen auf. Die Arbeiter der Anlegestelle schieben mit einem kräftigen Ruck die schweren Glastore zur Seite; die Menschen strömen auf das Schiff zu, schieben einander über die Holzstege, hasten die Stufen zum Oberdeck empor oder lassen sich auf die Bänke im überhitzten Innenraum fallen. Ein paar Zuspätkommende laufen über den Aufenthaltsraum auf die Türen zu; ein Arbeiter hält ein Tor einen Spalt breit offen, um die letzten Passagiere aus dem Gebäude auf die Fähre zu lassen. Dann werden die Holzstege wieder zurückgezogen, die Taue gelöst. Dröhnend schiebt sich der Dampfer vom Ufer weg. Vor der kleinen Schiffsbar bilden sich von Neuem Schlangen von Kunden. Von Neuem wird hinter der Theke heißes Wasser in die riesigen kupferfarbenen Teekessel gefüllt.

Montag, 5. Januar 2009

Unter Wasser

„Na seawas, es pisst ja ordentlich draußen“, denke ich, als ich mitten in der Nacht aufwache. Zufrieden ziehe ich meine warme Bettdecke enger um mich und schlafe wieder ein. In der Früh regnet es noch immer so stark. Seltsam nah ist das Geräusch. Ich gehe in die Küche. Und merke, dass es nicht der Regen war, den ich gehört habe. Das Wasser ist drinnen. Es schießt mit vollem Strahl unter der Abwasch hervor, es fließt ungehemmt auf den Holzboden, es hat die Küche unter Wasser gesetzt. Ich versuche, die geplatzte Wasserleitung irgendwie zu fixieren, der nicht zu bändigende Metallschlauch spritzt mich von oben bis unten voll. Wo ist bloß der Hahn, um das Wasser abzusperren? Im durchnässten Nachthemd renne ich vor die Tür, drehe am Hahn. Das Wasser lässt sich nicht abwürgen. Ich renne wieder in die Wohnung, streife mir eine Hose über und klopfe an die Tür der einen, dann der anderen Nachbarn. Ist es der wirre Blick, das nasse Haar, die seltsame Kombination aus Hose und Nachthemd? Oder schlafen noch alle? Niemand öffnet, niemand hilft.
Schließlich gelingt es mir, den Wasserhahn zuzudrehen. Ich versuche, Kubikliter von Wasser vom Holzboden aufzuwischen. Auf einmal klopft es an der Tür. Eine Nachbarin erzählt etwas von Wasser. Ich weiß, gebe ich ihr zu verstehen und zeige auf mein Wasser. Dann gehe ich mit ihr nach unten. Zentimetertief steht der Gang unter Wasser, es fließt die Wände des Kellers entlang, der sich unter meiner Wohnung befindet. Wenigstens habe ich keine weitere Wohnung unter Wasser gesetzt. „Allah Allah“, jammert die Nachbarin, und ich jammere in gebrochenem Türkisch mit. Ob ich beim Aufräumen helfen kann? Sie macht eine abweisende Handbewegung. Ist schon gut, ich soll mich um meine Überschwemmung kümmern.
Bis der Klempner kommt, dauert es nicht einmal sieben Stunden. Ich sitze vor dem Heizkörper – habe ich schon erwähnt, dass diese wunderschöne alte Wohnung mit ihren hohen Räumen verdammt schlecht zu heizen ist? – und höre dem Wasser beim In-den-Eimer-tropfen zu. Der Klempner also kommt mit seinem kaum 17-jährigen Gehilfen, kratzt sich am Kopf und ortet ein Problem. Dann lässt er seinen Assistenten unter die Spüle kriechen. Für seinen klobigen Körper wäre nicht Platz genug. Er raucht eine Zigarette und gibt seinem Lehrling Anweisungen. Das Verbindungsstück in der Wasserleitung sei schlechte Qualität gewesen, sagt er. Aus China. Aha. Und was kümmert mich das? Ich bin erst vor einem Monat eingezogen, die Wohnung ist zuvor komplett renoviert worden, die Leitungen waren neu. Aber er, erklärt mir der Klempner, verwendet türkisches Material. Aha. Und wann platzt diese Leitung? will ich wissen. Ach Mädchen, sagt er und klopft mir auf die Schulter. Wenn du mit dem Auto unterwegs bist, dann kann ja auch ein Unfall passieren. Wer weiß schon, was sein kann… Diese Kismet-Sache, dieses Was-kommen-soll-kommt-eben, kann ziemlich auf die Nerven gehen. Macht eure Arbeit ordentlich, verwendet kein schlechtes Material – es geht hier nicht um Kismet sondern um Pfusch, würde ich am liebsten entgegnen. Doch dafür reicht mein Türkisch nicht aus. Also lächle ich wie gottergeben.