Mittwoch, 10. Oktober 2007

Reise an Europas fernsten Rand



Aufzählung Nachrichten aus Diyarbakir handeln oft vom Krieg der Türkei gegen die PKK. Ansichten aus Kurdistan.

"Du bist verrückt. Nach Diyarbakir willst du fahren? Dort sind doch nur Kurden!" Der Plan, in den Südosten des Landes zu reisen, stößt bei türkischen Bekannten in Ankara auf Unverständnis. Auch wenn einige von ihnen noch nie dort waren: Die Region bringen sie in erster Linie mit Armut sowie Zurückgebliebenheit in Verbindung - und mit Kämpfen zwischen der Armee und der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK. Es vergeht kaum ein Tag, an dem bei Gefechten in den Bergen an der Grenze zum Irak nicht blutjunge türkische Soldaten sterben. Ebenso wie Aktivisten der PKK. "Terroristen" heißen sie offiziell. Kurden hingegen - als deren Metropole Diyarbakir gilt – nennen sie meist "Guerilla".

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Doch auf den ersten Blick unterscheidet sich Diyarbakir kaum von anderen anatolischen Städten, die nicht zuletzt durch die Landflucht stark gewachsen sind. Abgesehen vielleicht von den riesigen stacheldrahtumzäunten Arealen, die die Armee einnimmt. Pastellfarbene Wohnblöcke mit bunten Zierleisten unter den Balkonen ziehen sich bis an die Stadtränder. Dazwischen gläserne Bürogebäude und unzählige Werbetafeln an den Hauswänden. In Ofis, einem der neueren Viertel, reihen sich Geschäfte aneinander, neben Bars und Kaffeehäusern. Am Abend, wenn es von den 35 Grad Celsius im Herbst auf 20 Grad abgekühlt hat, sitzen Männer wie Frauen, in T-Shirts und Jeans in schicken Cafes auf Sitzpölstern und rauchen Nargile, Wasserpfeife. Auf den vierspurigen Ausfallstraßen hupen Autofahrer ihre Vordermänner an. Eine Skulptur in einem Kreisverkehr zeigt, wofür Diyarbakir auch bekannt sein will: Wie auf einer mehrstöckigen Torte prangt eine steinerne Wassermelone.

Denn obwohl von kargen ausgedörrten Bergen umgeben, liegt die Stadt selbst in einer fruchtbaren Ebene. Es ist das alte Mesopotamien, dessen Kultur Jahrtausende alt ist. Der Fluss Tigris, über den eine fast 950 Jahre alte Brücke mit zehn Bögen führt, macht den Anbau von Melonen, Tomaten und Gurken möglich. Die Felder sind besonders gut von den Bastionen der Wehrmauern aus zu sehen, die die Altstadt umschließen.

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Innerhalb der Mauern scheint die moderne Türkei weit entfernt; die gläsernen Teile Diyarbakirs und seine schicken Cafes sind wie aus einer anderen Welt. Innerhalb der alten Mauern gehören die Straßen den Männern: Sie sitzen vor den Cafés, bieten an Ständen ihre Ware an, schlendern durch die Altstadt, starren Menschen aus dem Ausland an - und ganz besonders die Frauen. Es ist staubig; der Geruch von Obst und Gewürzen vermischt sich mit dem Gestank von Abfall. In den engen verwinkelten Gassen, wo die Sonne selten hinkommt, laufen Grüppchen von Kindern mit zerzaustem Haar herum. "Hello, what's your name?" rufen sie Fremden zu. Manche wollen Geld, werden von Erwachsenen aber vertrieben. Auf den Schwellen der niedrigen Häuser hocken Frauen mit lose gewickelten weißen Kopftüchern und plaudern miteinander. In einem der wenigen renovierten Innenhöfe mit ihren hohen Erkern sitzen sechs ältere Männer: Sänger, die kurdische Weisen voller Wehmut von sich geben. Andere Männer hören ihnen zu.

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Diyarbakir ist in den letzten Jahren auf geschätzte 1,5 Millionen Einwohner angewachsen. Laut Menschenrechtsorganisationen hat die türkische Armee seit den 90er-Jahren an die 3680 von Kurden bewohnte Dörfer wegen der Kämpfe mit der PKK geräumt. Die Menschen flohen und leben seitdem in Slums in großen Städten wie Istanbul und Ankara - oder in Diyarbakir. Erst seit wenigen Jahren dürfen sie auf den Straßen Kurdisch sprechen, ohne Angst vor strafrechtlicher Verfolgung. Doch die Probleme wie hohe Arbeitslosigkeit, jahrzehntelange wirtschaftliche Vernachlässigung, ein feudales System in der Landwirtschaft, geringe Bildung, Unterdrückung der Frauen bleiben. Der Wandel ist hier weit zögerlicher als woanders in der Türkei.

Wiener Zeitung, am Mittwoch, 10. Oktober 2007

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