Dienstag, 9. Dezember 2008

Blutiges Fest

Die Türglocke in Ayses Wohnung klingelt schon wieder. Die fünfzehnjährige Tochter macht die Tür auf, nimmt von der Nachbarin ein Päckchen entgegen, tauscht mit ihr Glückwünsche aus. Zuvor waren ein paar Cousins zu Besuch, Ayses Schwester ist ebenso vorbeigekommen, die Nichten und Neffen waren ebenfalls da. Es ist Kurban Bayram, das Opferfest zur Erinnerung daran, dass Gott den gläubigen Abraham daran gehindert hat, dessen Sohn Isaak zu opfern. Vier Tage lang wird dies gefeiert, und Millionen von Türken machen sich auf die Reise, um ihre Familien zu besuchen.
Es ist auch ein blutiges Fest. Muslime, die es sich leisten können, müssen ein Tier opfern und das Fleisch an Bedürftige verteilen. „Es sind meist arme Leute aus der Umgebung“, erklärt Mahmut. „Sie holen sich das Fleisch dann ab. Oder du kannst es auch in der Moschee abgeben, die es dann verteilt.“ Mahmut hat Internationale Beziehungen studiert – unter anderem in Polen – und besucht jetzt ein Koranseminar in Istanbul. Nein, lacht er, er wolle kein Imam werden. Aber er möchte Arabisch lernen und dann vielleicht Diplomat werden. Während er das erzählt, haucht er immer wieder in seine Hände, um sie in der aufziehenden Abendkälte aufzuwärmen. Seit zehn am Vormittag sitzt er an einem kleinen Tisch vor der Moschee im Istanbuler Stadtviertel Tepebasi und führt Buch über die geschlachteten Schafe. An die hundert waren es heute. Auch Kühe werden geopfert, aber die hätten in dem kleinen Schlachtraum neben der Moschee keinen Platz.
In dem weiß gekachelten Raum sind ein paar Männer in grünen Plastikumhängen und Gummistiefeln seit Stunden damit beschäftigt, Schafen die Kehle durchzuschneiden, die Tiere zu häuten und grob zu zerlegen. Immer wieder spritzen sie den Boden mit Wasser ab, kehren das Blut in eine Rinne in der Mitte des Raums.
„Freunde, jeweils nur fünf sollen sich anstellen“, schreit jemand. „Es gibt eine Reihenfolge einzuhalten.“ Vor der Tür drängen sich die Menschen und mühen sich, die zuvor auf Märkten gekauften und nun an Stricken gehaltenen Schafe zu beruhigen. Es ist kein Blöken zu hören, obwohl die Tiere das Blut spüren.
Im Innenhof der Moschee wird das Fleisch zerteilt, und die Menschen tragen es in großen schwarzen Plastiksäcken davon. In Scheibtruhen werden Überreste wie Hufe oder Fellstücke zu den bereitgestellten Müllcontainern gekarrt.
Nicht überall werden die staatlich geregelten Vorschriften zur Schlachtung eingehalten. Statt in dafür vorgesehenen Räumen wird auch in Gärten, auf Feldern, in Parks, sogar auf Kinderspielplätzen geschlachtet. Trotz der riesigen Plastikplanen, die ausgebreitet werden, färbt sich die Erde rot. Jedes Jahr mahnen Zeitungen ihre Leser, kleine Kinder bei der Opferung nicht zusehen zu lassen – und bringen dann Bilder von Sechs-, Siebenjährigen, die entsetzt die Augen abwenden. Jahr für Jahr landen tausende Ungeübte im Krankenhaus, weil sie sich bei ihren Schlachtversuchen selbst verletzt haben.
Als der Muezzingesang zum Abendgebet erklingt, ist das Schlachten neben der Moschee in Tepebasi vorbei. Ein Mann spritzt mit einem Wasserschlauch die letzten Blutreste vom Gehsteig.

Montag, 8. Dezember 2008

Der Kuehlschrank im Salon

Es ist ja nicht so, dass wenn du eine möblierte und bezugsfertige Wohnung mietest, du tatsächlich einziehen kannst. Du darfst Miete und Kaution zahlen, das ja – und im Voraus. Aber es sind noch ein paar Dinge zu erledigen. Kleinigkeiten, wie die Maklerin versichert. Da wären etwa Strom und Gas anzumelden. Du gehst also mit deinem Mietvertrag und etlichen anderen Dokumenten zur Gasstelle und stellst dich auf Warten ein. Wie überall – ob auf Banken, an Bushaltestellen, in Behörden, sogar vor Bankomaten, von denen es an jeder Ecke einen gibt – stellen sich die Türken geduldig und recht geordnet an. Wer sich vordrängen will, wird zurechtgewiesen.
In der Gasstelle ziehe ich also aus einem Automaten eine Nummer: 326. Die kleinen Anzeigen über den Glastüren, hinter denen die Beamten sitzen, zeigen 201, 206 und 203 an. Nach einer Stunde werden alle Menschen aus dem Gebäude gebeten. Es ist Mittagspause, wir sollen in einer Stunde wiederkommen. Die Menschen strömen aus dem Haus, gehen Einkaufen oder ins nächste Kaffeehaus, warten vor der Tür auf neuerlichen Einlass. Nach drei Stunden neuerlichen Wartens habe ich meinen Gasvertrag – und bekomme den Gaszähler in die Hand gedrückt. Den solle ich nach Hause tragen, sagt ein freundlicher Mann. Etwas verzagt versuche ich herauszufinden, ob ich das Gas selbst anschließen muss. Nein, das wird erledigt. Wann? Der Mann lächelt freundlich.
Der Stromvertrag ist ein Klacks dagegen. Darauf brauche ich nur zwei Stunden zu warten.
In der Wohnung stelle ich fest, dass das fehlende Glas in einem Fenster noch immer nicht eingesetzt ist. Stattdessen fehlt nun auch ein Glas im Wohnzimmer. Ach, das werden wohl die Arbeiter zum Auswechseln mitgenommen haben, meint die Maklerin am Telefon. Werden sie wohl.
Zwei Tage später ist das Fenster noch immer nicht da. Aber das Gas wird angeschlossen. Sehr schnell ging das: Kurz war ich weg zum Einkaufen, komme zurück und stelle fest, dass jemand in der Wohnung war. Der Kühlschrank nämlich steht auf einmal im Wohnzimmer. Als sie das Gas angeschlossen haben, mussten sie anscheinend hinter dem Kühlschrank etwas richten und haben diesen in den Salon verfrachtet. Sogar angeschlossen haben sie ihn dort, was ich sehr aufmerksam finde.
Angeschlossen ist nun auch das Wasser in der Küche. Doch es tropft.
Einen Tag später ist auch das Glas eingesetzt. Doch in einem Fenster klafft ein Spalt von einem halben Zentimeter zwischen Glas und Rahmen.
Störend ist auch der zentimeterbreite Spalt zwischen den Flügeln der wunderschönen hölzernen Eingangstür, wo eine Leiste fehlt. Von mir aus sollen die Nachbarn reinsehen können, aber die Dezemberkälte, die ungehindert reinströmt, ist unangenehm. Vor allem weil seit Tagen das Glas im Hauseingang fehlt – weggebracht zu Service-Zwecken, wie es hieß.
Der Maklerin schicke ich nur noch SMS. Weder will ich mit ihr reden, noch sie mit mir. Die Arbeiter werden schon kommen, schreibt sie. Wohl nach den Feiertagen zum Opferfest. Dieses dauert ja nur eine Woche.

Samstag, 6. Dezember 2008

Auf Wohnungssuche

Das ist ja ganz einfach, sagen meine türkischen Bekannten. Wenn du eine Wohnung finden willst, dann brauchst du nur durch die Gegend gehen und auf die Fenster schauen. Dort sind immer wieder Zettel angeklebt, mit dem Text „Zu vermieten“ und einer Telefonnummer. Du rufst an und lässt dir die Wohnung zeigen.
Klappt bei mir aber irgendwie nicht. Also verlege ich mich wieder auf die Suche im Internet und komme dabei um diese Immobilienmakler nicht herum, die von mir eine ganze Monatsmiete verlangen werden, bloß weil sie mich in ein Haus führen und die Wohnung aufsperren.
Wohnung 1 liegt im fünften Stock und ist über eine metallene Wendeltreppe erreichbar. Im Vergleich zu diesem Stiegenhaus wirken die Feuerleitern an den Außenwänden der Häuser wie solidestes Bauwerk. Die Aussicht auf den Bosporus aber ist überwältigend. Nur ist es schwierig auf dem Balkon zu stehen, weil dieser nach vorne kippt.
Wohnung 2 ist groß und hell, neu renoviert und hat zwei Zimmer. Aber es hat sie gerade ein Deutscher gemietet. Wozu er mir sie dann zeige, frage ich den gesprächigen Makler. Weil in dem Haus noch etwas frei ist.
Wohnung 3 aber ist noch nicht fertig. Es soll ein ausgebautes Dachgeschoss werden. Wo ist denn das Klo? Ja, wo denn – der Makler gibt die Frage an den Handwerker weiter. Unter einer Dachschräge wurde ein kleines Plätzchen geschaffen, in das du nur gebückt reinschlüpfen kannst. Stehen ist nicht möglich. Auch für eine Dusche sind die Räume nicht hoch genug. Dafür soll ein Yacuzi ins Schlafzimmer kommen.
Wohnung 4 ist ebenfalls neu renoviert. Nur ist es das einzige renovierte Haus in der engen dunklen Gasse. Rundherum wunderschöne aber völlig verfallene und – auf den ersten Blick – unbewohnte Jahrhundertwendehäuser. In der Nacht sollte ich lieber mit dem Taxi heimkommen, rät der Makler.
Wohnung 5 ist zu teuer, Wohnung 6 zu klein (und zu teuer), die Möbel in Wohnung 7 sind so hässlich wie Billigmöbel aus den 80er-Jahren nun mal sind.
Gut, vielleicht soll es nicht Beyoglu auf der europäischen Seite sein, denke ich und versuche es in Kadiköy auf der anatolischen Seite. Die Mieten dort sollen sowieso niedriger sein.
In dem alten Haus, wo mir der 70-jährige Besitzer Wohnung 8 und 9 zeigt, gibt es keine Heizung. Wäre vielleicht nicht so ein Problem, aber die Wohnungen sind völlig verdreckt. Wir sitzen noch ein wenig zusammen, trinken Kaffee, er klagt mir sein Leid als Wohnungsbesitzer und küsst mich dann auf beide Wangen. Er hätte mich so gerne als Mieterin, sagt er zum Abschied.
Wohnung 10 ist bis an die Decke jedes einzelnen Zimmers mit Krempel angeräumt. Alte Radios, ausgemustertes Gewand, ungebrauchte Möbel, Polster, kaputtes Spielzeug: Alles stapelt sich in den drei kleinen Räumen. Wenn ich etwas nicht brauche, könne es der Besitzer ja wegnehmen, sagt die Maklerin. Ich brauche gar nichts davon.
Gut, vielleicht doch wieder Beyoglu.
Wohnung 11, 12 und 13: zu teuer, zu klein, zu grindig. Klar, für 1500 Euro kannst du tolle Wohnungen in Istanbul bekommen. Aber ich bin nun einmal kein Geschäftsmann, dessen Firma die Dienstwohnung mit Terasse und Meerblick bezahlt. Dennoch bin auch ich eine Ausländerin. Und Ausländer hätten nun mal Geld, das es ihnen abzuknöpfen gilt, ist die häufige Annahme.
Wohnung 14 bis 17: nothing to write home about.
Wohnung 18: wunderschöne hohe Räume, neue Küche, Parkettboden, zwei kleine Balkone mit Blick auf Halic, das Goldene Horn, drei Zimmer. Wenn ich groß bin, will ich so eine Wohnung. Jetzt aber ist mein Budget zu klein.
Wohnung 19 sehe ich mir zwei Mal an, das zweite Mal mit E. Als wir in die nächste kleine Gasse einbiegen, sagt sie: Nein. In diese Gegend solltest du nicht ziehen. Das Viertel sei nicht unbedingt sicher. Doch die Wohnung lässt mir keine Ruhe. Ebenfalls hohe Räume, alte im Original belassene Holztüren, Parkettboden, genug Platz für mich und Gäste, nur wenige, dafür brauch- und ansehbare Möbel.
Wohnung 20 ist nett und freundlich, doch Wohnung 19 wartet.
An Wohnung 21 habe ich auch etwas auszusetzen. Der Makler ruft an, dass Wohnung 19 etwas billiger zu haben ist. Ich zögere noch und schaue mir Wohnung 22 an.
Und dann rufe ich den Makler an. Ich will sie, ich nehme sie. Doch auch mit Wohnung 19 wird nicht alles ganz einfach.

Montag, 10. November 2008

Das Amt fuer Auslaender

Das Ausländeramt ist in einem hässlichen langgezogenen sechsstöckigen Betonbunker untergebracht. Gleich daneben steht eine andere Behörde. „Ich liebe mein Land, ich zahle meine Steuer“, ist auf einem riesigen Schild über dem Eingang zu lesen. Muss wohl das Finanzamt sein. Ich aber habe im Moment andere Sorgen. Ich habe mir in den Kopf gesetzt, meinen Aufenthaltsstatus in der Türkei zu legalisieren und eine Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen. Was im Endeffekt wieder bedeutet: anstellen und warten. Noch bevor die Menschen zur Behörde vorgelassen werden, müssen sie in einem kleinen Raum ihre Pässe oder Personalausweise vorweisen. Eine Schlange gibt es für die türkischen Staatsbürger, eine für die Ausländer. Die drei Beamten hinter dem Pult notieren jeden Namen. Vorbeigelassen gehen die orientierungslosen Antragsteller über einen weiträumigen Innenhof und in die Behörde hinein.
Wer ausländisch ausschaut, wird vom gelangweilten Türsteher gleich in den ersten Stock gewinkt. Dort geht es zunächst zur Schlange vor der Information. Nicht wegen der Information, sondern weil dort die Nummern verteilt werden, die für das Warten vor dem nächsten Schalter notwendig sind. Als ich an der Reihe bin, schiebe ich dem Beamten hinter der Glaswand durch den Schlitz die Dokumente zu: ein Formular, ein anderes Formular, eine Kopie des Passes, eine Kopie des Visums, eine Bestätigung über vorhandene Geldmittel, eine Bestätigung über den Besuch des Sprachkurses, vier Passfotos. Und wo ist der Antrag, der Antrag auf Türkisch?, will der Mann wissen. Wie, um Gottes willen, soll ich einen Antrag auf eine Aufenthaltsgenehmigung auf Türkisch schreiben?, frage ich den Mann mehr mit Augen und Händen als mit der Zunge. Der Beamte seufzt. Er nimmt ein Stück Papier, schreibt zwei kurze Sätze darauf und lässt mich unterzeichnen. Ich unterschreibe und hoffe, dass es nicht gerade die Einwilligungserklärung für einen Eintritt in die Armee war. Danach soll ich mich am Kassenschalter anstellen (dort geht es am schnellsten) und mit der Quittung wiederkommen. Am nächsten Tag werde meine Aufenthaltsgenehmigung fertig sein.
Im Hintergrund klappern Tastaturen. Hinter den hinter der Glaswand sitzenden Beamten ist eine zweite Reihe mit Schreibtischen aufgestellt. Neben dem Computer haben die Menschen riesige aufgeschlagene Bücher liegen. Dort werden händisch die Namen der angemeldeten Ausländer eingetragen, deren Foto wird eingeklebt. Spalte um Spalte füllen die Beamten mit den Daten der Neuankömmlinge, blättern die Seite um und schreiben die nächsten Informationen auf. Wo werden diese Bücher aufbewahrt, wer kann etwas auf diesen Millionen von Seiten wieder finden?
Am nächsten Tag stelle ich mich vor dem Schalter an, an dem die fertig gestellten Aufenthaltsgenehmigungen ausgeteilt werden. Die Beamten sind gerade von der Mittagspause zurückgekommen. Sie setzen sich auf ihre Plätze, öffnen langsam die Schubladen des Tisches, nehmen die zuvor dort verstauten Kugelschreiber heraus und auch die Stempel, einen nach dem anderen und ohne Eile. Der jüngere Mann ordnet alles auf dem Schreibtisch, dann schaut er auf, lässt seinen Blick durch die Gesichter der Wartenden schweifen, zeigt einen Anflug von Lächeln. Na gut, gibt er zu verstehen: Wenn ihr unbedingt wollt, dann fangen wir an. Er sammelt die Zettel ein, die die Menschen an den Schaltern zuvor bekommen haben und auf denen die Wartenummer für die Aufenthaltsgenehmigung steht. Dann steht er auf, geht in einen Nebenraum, sucht in einem Ordner nach den Dokumenten. Mit einem Stapel Ausweise und Papiere kommt er zurück, setzt sich wieder, öffnet einen Ausweis. „Tadschikistan“, ruft er. Ein junger Mann schiebt sich nach vorne, nimmt seine Aufenthaltsgenehmigung entgegen, unterschreibt ein Papier, das dann mit drei verschiedenen Stempeln versehen wird. „Ukraine“, ruft der Beamte dann. Es folgen Usbekistan, noch mal Ukraine, Rumänien, Bulgarien… Und wo bleibt Österreich? Der Mann zuckt mit den Schultern: Ist wohl noch nicht fertig. Ich solle am nächsten Tag wiederkommen. Ein Engländer rät mir, es nicht wörtlich zu nehmen. Er spricht aus fünfjähriger Erfahrung, da er seine Aufenthaltsgenehmigung jedes Jahr erneuern muss.Nach einer Woche habe ich meine Aufenthaltsgenehmigung für ein halbes Jahr in der Hand. In erster Linie bedeutet das: Ich muss das Ausländeramt sechs Monate lang nicht betreten.

Donnerstag, 3. Juli 2008

Neun Euro für eine Information

"Freunde im Ausland?" Mein Mobilfunkanbieter hat mich durchschaut. Nach nur ein paar SMS über die Grenze hinaus hat er gleich per Kurzbotschaft nachgefragt, ob ich nicht an einem Angebot für billigere Telefonate in die Türkei interessiert wäre.
Ja, ich habe dort Freunde. Und würde ich mich damit begnügen, mit ihnen zu telefonieren, wäre alles kein Problem. Doch ich möchte sie nach Österreich einladen und mit ihnen ein paar Tage in Wien verbringen. Da hört sich der Spaß auf.
Zwar wollen die beiden keineswegs in Österreich bleiben und hier schwarz auf dem Bau arbeiten. A. ist Bankanalystin, O. EDV-Spezialist; an Hilfsarbeiterjobs im Ausland sind sie nicht interessiert. Doch das alles müssen sie den Österreichern nachweisen. Um ein Visum zu bekommen, das 60 bis 75 Euro kostet, brauchen sie neben gültigem Reisepass, Geburtsurkunde und einem Auszug aus dem Familienregister unter anderem:
* Nachweis der Unterkunft,
* Nachweis des Transportmittels,
* Arbeits- und Urlaubsbestätigung des Arbeitgebers,
* Lohnbestätigung und aktuellen Kontoauszug,
* Einladungsschreiben.
Nähere Informationen und eine Terminvergabe etwa bei der österreichischen Botschaft in Ankara sind dabei keinesfalls gratis. Da wird am Telefon nach der Begrüßung zunächst die Kreditkartennummer oder ein Pin-Code von der Bank verlangt. Neun Euro werden dann gleich einmal dem potenziellen Antragsteller für die Dienstleistungen des Callcenters abgezogen.
Mir als Einladender wird es auch nicht einfach gemacht. Für eine elektronische Verpflichtungserklärung für meine Gäste muss ich der Polizei Pass, Meldezettel und Lohnbestätigung vorlegen. Mit den Unterlagen marschiere ich also aufs Kommissariat. Dort stellt sich aber heraus, dass ich ebenso meinen Mietvertrag vorzeigen muss. Schließlich gehört auch notiert, auf wieviel Quadratmetern ich wohne und was ich dafür bezahle. Also marschiere ich noch einmal aufs Kommissariat, damit das ebenfalls erledigt wird. Eine Garantie, dass meine Freunde ihr Zehn-Tages-Visum bekommen, gibt es freilich nicht.
*
Da es jetzt total in Mode ist, offene Briefe zu verfassen, könnten die beiden den anderen Dokumenten folgendes Schreiben beifügen:
"Sehr geehrte österreichische Bundesregierung!
Uns türkischen Staatsbürgern ist bewusst, dass Sie auf die Befürchtungen der Bevölkerung in Ihrem Land Rücksicht nehmen. Doch wir möchten nicht nach Österreich reisen, um den Menschen dort die Arbeitsplätze wegzunehmen oder die islamische Kultur zu verbreiten. Wir möchten dort nicht einmal länger als zehn Tage bleiben, sondern einfach nur Urlaub machen und etwas von unserem in der Türkei verdientem Geld dortlassen.
Warum aber behandeln die EU-Staaten – denn die Anforderungen für Visa in andere Länder sind ähnlich – Ausländer aus Nicht-EU-Staaten als potenzielle Schwarzarbeiter oder Kriminelle? Warum wird die von der EU theoretisch so hochgeschätzte Mobilität uns so schwer gemacht? Warum schottet sich Europa derart ab? Warum habt Ihr so viel Angst vor uns?
Herzlichst – A. und O."

Wiener Zeitung, 2. Juli 2008

Freitag, 13. Juni 2008

Thema Nummer Eins

Selbstverständlich schaue ich mir jedes EM-Match an. So auch Österreich-Polen. Doch in dem Wiener polnischen Lokal sind nur meine Schwester und ich für Polen. Alle anderen zittern für Österreich. Dafür bekomme ich eine polnische Fahne umgehängt. Doch gegen Mitte der ersten Halbzeit kann ich nicht anders: Ich richte meine Sympathie auf die Österreicher. Sie tun mir einfach leid. Meine Schwester wiederum kann den Schwenk nicht fassen, beschimpft mich auf Deutsch und Polnisch. Hätte ich die polnische Staatsbürgerschaft noch, würde sie sie mir aberkennen. Meine Fahne aber darf ich behalten.
Nach dem Match ist das Lokal plötzlich voll. Zwei polnische Fans wanken herein, sie haben versucht, sich das Unentschieden schönzutrinken. Einer verschwindet wieder, der andere baggert mich an. Als der Verschwundene wieder auftaucht, ist der Baggerer weg. Dafür weiß der erste nun nicht, wo er schlafen soll. Ich nicke mitfühlend. Ganz schön tragisch.
Dann versuchen zwei Österreich-Fans ins Gespräch zu kommen. Doch sie sind entsetzt, als sie erkennen müssen, dass die Polin eine Polin ist. Und dann verkünden sie ihre Erkenntnis des Tages: „Es gibt wichtigeres als Sex“, finden sie. „Fußball.“ Stimmt. Doch Männer, die sich für Sex nicht interessieren, interessieren uns nicht. Als die Burschen das vernehmen, ziehen sie ab.

Dienstag, 3. Juni 2008

Reisen mit dem Autobus

Die Reise von Istanbul nach Van dauert siebzehn Stunden. Manchmal auch etwas länger, wenn mehr Leute unterwegs aussteigen. Denn dazu ist keine Haltestelle nötig. Es reicht, dem Busfahrer zu sagen, er solle dich bitte an der Straßenecke irgendeines Städtchens rauslassen. Ich bin neben einer kleinen rundlichen Frau mit Kopftuch platziert worden. Freie Platzwahl gibt es im Autobus nämlich nicht. Wie für das Flugzeug werden Tickets mit Sitzplatznummern verkauft. Und wie im Flugzeug gibt es Stewards, die Tee und kalte Getränke servieren. Meine Nachbarin fängt gleich ein Gespräch mit mir an. Dass ich so gut wie gar nichts verstehe, kümmert sie nicht. Sie nestelt das Foto ihres Sohnes aus dem Geldbörsel, sagt, dass er in Ankara arbeitet und noch unverheiratet ist. Dann meint sie, es wäre auch für sie bequemer gewesen, eine Hose anzuziehen. Dabei zupft sie an meiner Jeans, um sicher zu gehen, dass ich sie verstehe. Sie ist fünfzig, hat Textilien gefertigt, Borten und Jacken gehäkelt. Dadurch sind ihre Augen schlechter geworden, jetzt ist sie pensioniert. All das erklärt sie mit viel Körpereinsatz und indem sie sich an mich lehnt. An den Raststätten biete ich ihr Zigaretten an.
Um zwei, drei in der Nacht wird es ruhig im Autobus. Die Menschen machen es sich bequem, so gut es geht, schlummern. Ein kleines Kind quengelt leise, wird aber gleich beruhigt. Eine Frau reist mit ihren zwei Söhnen. Sie sind nicht älter als acht Jahre. Geduldig schauen sie aus dem Fenster, schlafen dann aneinander geschmiegt, klagen nicht über Langeweile. Um vier Uhr beginnen drei Männer hinter mir eine Diskussion über Politik. Ich höre den Namen des Oppositionsführers.
Kurz nach fünf wird es hell. Wir kommen ans Schwarze Meer, fahren die Küste entlang. Die Straße verläuft oft nicht einmal hundert Meter vom Meer entfernt. Statt Strände zu schaffen wurden hier Straßen gebaut.
Vor der Raststätte in Terme steht die Statue einer einbrüstigen Frau, die einen Pfeil in ihren Bogen spannt. Die Amazonen sollen einer Legende nach hier gelebt haben.
Um zehn vormittags, in Trabzon, sind nur noch die wenigsten Fahrgäste übrig. Die meisten sind unterwegs ausgestiegen.

Die Reise von Trabzon nach Van dauert elf Stunden. Als der Bus wegfährt, ist es schon dunkel. Es sind viele Plätze frei, ich sitze in der Mitte des Busses, gleich beim hinteren Ausgang, wo der zweite Busfahrer oder Steward eine Schlafkoje hat. Vor Mitternacht sitzt einer von ihnen auf den Stufen vor der Koje und raucht eine Zigarette. Ob ich auch eine wolle, fragt er mich in Zeichensprache. Klar. Wir sitzen dann gemeinsam auf den Stufen und rauchen. Dann bedeutet er mir, ich soll doch in die Koje kommen. Nein. Na dann solle ich ihn doch wenigstens küssen. Neeeeeeeiiin. Nur einmal. Aber sicher nicht. Während ich flüchte, frage ich ihn, ob er spinnt. Der Mann ist an die Fünfzig und hat Zahnlücken.

Von Igdir nach Kars sind es gute hundert Kilometer. Doch die Reise dauert dreieinhalb Stunden. Der Weg führt über Berge, die vor tausenden von Jahren durch Lava geformt worden waren. Das Gestein wird auch zum Häuserbau verwendet. Wie in die Erde gebaut und so schwarz wie sie sehen die ärmlichen Dörfer mit ihren flachen Dächern am Wegesrand aus. Dazwischen grüne Felder, im Hintergrund Berge und die hügelige Weite des Landes.
Die Reise wird durch Kontrollen unterbrochen. Soldaten haben Stützpunkte aufgebaut. Der Weg verläuft entlang der Grenze zum Iran und zu Armenien, die Autos werden nach geschmuggelten Zigaretten oder alkoholischen Getränken abgesucht.
Und noch etwas, meint E.: Es ist von Kurden bewohntes Gebiet, die Menschen hier werden schlicht schikaniert. Ihnen soll das Reisen vergällt werden. Unter dem Vorwand, die PKK bekämpfen zu wollen, die in den Bergen ihre Rückzugsgebiete hat, mache die Regierung allen Menschen das Leben schwer.
Jedenfalls werden alle Fahrzeuge aufgehalten, wie an einer Grenze. Manchmal müssen die Reisenden ihr Gepäck aus dem Kofferraum des Autobusses rausholen. Dann öffnen die Soldaten jede einzelne Tasche und tasten sie ab. Es sind junge Burschen, viele gerade einmal zwanzig Jahre alt, die ihren Militärdienst hier ableisten müssen. Einer von ihnen, auf die Kontrollen angesprochen, sagt, er tue es auch nicht gern. Aber es solle halt so sein.

Montag, 26. Mai 2008

'Auch Van aendert sich'

Van, die sagenumwobene Stadt, muss einmal ein magischer Ort gewesen sein. Auf einem Berghügel gebaut, blickte sie auf den gleichnamigen See hinunter. Rundherum erstrecken sich Berge, auf deren Gipfeln teilweise noch Ende Mai Schnee liegt. Doch die Felder darunter sind grün, Schafe finden hier genug Nahrung. In Van drängten sich Kirchen und Moscheen zwischen den niedrigen Häusern in verwinkelten Gassen. Es gibt davon eine Fotografie, die ein deutscher Architekt vor etwa hundert Jahren gemacht hat. Urartäer, Seldschuken, Perser, Osmanen, Kurden und vor allem Armenier prägten das Stadtbild. Doch 1915, als Türken und Russen um die Vorherrschaft kämpften, kam es zu einem Aufstand der Armenier. Kurz darauf wurden sie vertrieben, viele von ihnen ermordet. Die Stadt wurde niedergemacht. Nur noch Ruinen der alten Festung, ein Minarett, eine Grabstätte und ein paar Inschriften auf einem Felsen zeugen von der tausende Jahre währenden älteren Geschichte Vans.
Das neue Van wurde etwa fünf Kilometer weiter östlich neu aufgebaut. Es war auf 150.000 Menschen ausgelegt; mittlerweile ist es auf mehr als 600.000 Einwohner angeschwollen. Kurden, die im Zuge des Kampfes gegen die PKK aus ihren Dörfern vertrieben wurden, sind hier ebenso gestrandet wie iranische Flüchtlinge. Die Grenze zu ihrem Land ist gerade einmal 90 Kilometer weit entfernt.
Einen Job zu finden, ist nicht einfach. Manche Männer gehen in der Früh zu einem Treffpunkt beim Basarviertel, wo sie von Vermittlern für einen Tag angeheuert werden, um etwa auf dem Bau zu arbeiten. Manche schicken ihre Kinder zur Arbeit. So arbeiten auch dreizehnjährige als Laufburschen in Geschäften oder Restaurants. Auf der Straße bieten kleine Buben Taschentücher oder geschmuggelte Zigaretten zum Kauf an, gehen mit einer schmutzigen Waage hausieren, auf der sich potenzielle Kunden wiegen lassen können. Das meiste Leben spielt sich an der Straße der Republik ab, mit ihren Geschäften, Lokalen und Internet-Cafes. Wunderbar sind die „Frühstücks-Salons“, wo es den mit Kräutern verfeinerten Otlu-Käse, cremigen Honig, Eierspeise mit Tomaten und endlos Tee gibt.
Die Straßen sind voller Männer, die Ausländerinnen anstarren. Frauen, viele mit Kopftuch, sind weit seltener zu sehen, nach zehn Uhr abends so gut wie gar nicht. In zahlreichen Lokalen gibt es Abteilungen nur für Männer, mit Glück auch eine Sektion für Familien. Noch immer gehen viele Frauen nicht arbeiten, bleiben zu Hause mit den Kindern.
Doch auch in Van ändert sich einiges, sagt mir M., ein 28-jähriger Kunststudent. Vor fünf Jahren noch wäre das nicht möglich gewesen, erklärt er und deutet zuerst auf sein Flinserl, dann auf sein Ziegenbärtchen. Ein junges Ehepaar, das ich kurze Zeit später in einem Lokal kennenlerne, bestätigt das. „Vor ein paar Jahren hätte ich nicht so einfach am Abend zusammen mit meiner Frau auf ein Bier gehen können“, versichert S.
Dennoch sind M.s fünf Schwestern – er hat auch noch zwei Brüder – alle verheiratet und Hausfrauen. Als eine auf die Universität wollte, hat der Vater es nicht erlaubt. Wozu sei das denn notwendig? M. mag seinen Vater nicht besonders, er teilt dessen Einstellung nicht. Immer dieses Beten, alles als Schicksal hinnehmen, ob Kinderzahl oder Krankheit – damit kann M. wenig anfangen. Was er allerdings nach dem Studium macht, weiß er selbst noch nicht so recht. Am liebsten sei ihm Malen und Trinken, sagt er und lacht. Doch von Van aus als Maler zu reüssieren, sei unmöglich. Die Zukunft werde es weisen. Sich aber nur aufs Schicksal verlassen – das will M. nicht.

Die Amerikaner sind schuld

Mit zwei Studenten und einem Anwalt aus Istanbul fahre ich in einem Minibus ins Sümela-Kloster, das etwa 40 Kilometer von Trabzon entfernt in einen Felshang gehauen wurde. Die Landschaft am Schwarzen Meer ist eine saftige, die Berge sind mit Wald bewachsen. Oft sind sie in Nebel getaucht, das Klima ist feucht. Es ist eine der wichtigsten Regionen für Haselnuss-Anbau in der Türkei; unweit von Trabzon gibt es sogar ein Haselnuss-Forschungsinstitut. Ö., der Chauffeur, liebt diese Gegend. Er ist hier geboren, hat aber 30 Jahre lang in Istanbul gewohnt und als Lkw-Fahrer gearbeitet. Doch dann hat er seine Wohnung verkauft und ist vor drei Jahren wieder nach Trabzon gezogen. „Hier ist die Luft besser, und die Menschen sind es auch“, sagt Ö. Hier würden Tomaten und Gurken besser gedeihen als anderswo; das Gemüse sei so gesund, dass du keine Medikamente brauchst. Und die Menschen: „Ich habe in Istanbul in 30 Jahren nur drei echte Freundschaften geschlossen. Hier aber kenne ich so viele Leute, und wir sind alle Freunde.“
Doch die Arbeitslosigkeit sei ein Problem. Wie viele Menschen können schon vom Haselnuss-Anbau leben? Auch Fischer hätten es zunehmend schwer, weil es immer weniger Fische gebe. „Hier kannst du nur als Beamter oder Lehrer arbeiten“, meint Ö. In dem Dorf etwa, wo er seine Kindheit verbracht hat, sind fast alle Lehrer.
Ö. macht mittlerweile keine langen Strecken mehr. Trabzon-Macka-Sümela: Fahrten in einem Radius von 50 Kilometern reichen ihm. Er selbst steigt ungern in einen Autobus. „In der Türkei sterben im Schnitt 50 Menschen täglich im Straßenverkehr“, erklärt er. Für lange Strecken nimmt er da lieber das Flugzeug. Der Anwalt ergänzt, dass es vor 30 Jahren noch gute Seeverbindungen gegeben hat im Schwarzen Meer. Doch dann hätten die Regierungen auf Druck der Amerikaner enorm viel Geld in den Straßenbau gesteckt, hätten den Betrieb zahlreicher Fähren eingestellt und den Ausbau des Eisenbahnnetzes völlig vernachlässigt. „Die Amerikaner“, glaubt Ö. „wollen nur, dass wir ihre Autos kaufen und bei ihnen Kredite aufnehmen.“
Die Überzeugung, dass so vieles fremdgesteuert ist, dass ihr Land von anderen Mächten beeinflusst werde, ist bei Türken immer wieder zu finden. Es ist ein guter Boden für Verschwörungstheorien. Und manche entpuppen sich sogar als wahr. Militärs planen Staatscoups – und haben schon manches Mal welche ausgeführt. Es gibt einen Geheimdienst, den es offiziell gar nicht gibt. Polizisten können dich an jeder Straßenecke aufhalten und nach deinem Ausweis fragen. Extreme Nationalisten geben Morde an kurdischen Aktivisten in Auftrag. Dass auch andere Länder mitspielen und ihre Interessen in der Türkei verfolgen, scheint da gar nicht so weit hergeholt.

Aus der Provinz

Auf der einen Seite das Schwarze Meer, auf der anderen die Ausläufer des Pontischen Gebirges: In einem Halbrund erstreckt sich die nordtürkische Hafenstadt Trabzon mit ihren rund 200.000 Einwohnern. Mehrstöckige moderne Apartmenthäuser schmiegen sich aneinander und die Hänge empor. Tiefer gelegen ist die Altstadt; sie ist vom Terrassencafe im sechsten Stock eines gläsernen Bürogebäudes am Atatürk-Platz ebenso zu sehen wie schneebedeckte Berggipfel in der Ferne.
Trabzon versprüht den Charme einer Provinzhauptstadt. Einige alte Häuser sind renoviert und herausgeputzt. Die Ayasofya mit ihren Fresken und dem angeblich einzigen auf türkischem Boden verbliebenen byzantinischen Kirchenturm liegt in einem gepflegten Garten. Im Park sitzen Männer vor Teehäusern auf Plastiksesseln; in der Fußgängerzone flanieren junge Mädchen mit auf die Kleidung farblich abgestimmten Kopftüchern. Nach dem Unterricht schlendern 14-jährige in ihren Schuluniformen durch die Straßen; Laufburschen aus den Restaurants tragen auf Tabletts Teller mit Essen in danebenliegende Geschäfte.
Und dann gibt es noch die Billigabsteigen in Hafennähe, die vorwiegend als Stundenhotels genutzt werden. Etliche Frauen aus Russland und anderen Ex-Sowjetrepubliken arbeiten hier als Prostituierte. Um fünf in der Früh gehen sie müde heim, kaufen noch schnell im Kiosk ums Eck Zigaretten und wechseln ein paar Sätze auf Türkisch mit dem Verkäufer.
Unter den historischen Brücken, in den Gräben zwischen den alten Stadtmauern ducken sich ärmliche Viertel, die teilweise schon großzügig angelegten Parkanlagen weichen mussten. Kinder in abgetragenen Kleidern spielen auf Schotterhaufen zwischen den verfallenden Häusern, über deren flachen Dächern Wäscheleinen gespannt sind. S. wird mir später entrüstet erklären, dass die Menschen dort teilweise nicht einmal türkisch können, sondern nur kurdisch.
Keiner der Studenten, die ich kennenlerne, mag Trabzon. Warum aber, können sie mir nicht so recht erklären. Es hat sie aus Gaziantep, Ankara oder Adana an die Karadeniz Technische Universität verschlagen. Sie sind entweder hier, weil einige Fakultäten der Hochschule – wo an die 45.000 Studenten inskribiert sind – einen guten Ruf genießen oder weil die Punktezahl bei der Aufnahmeprüfung nicht für eine andere Universität gereicht hat. S., eine hübsche quirlige Mathematik-Studentin, die oft und laut lacht, warnt mich vor den Männern in Trabzon. Die in kleinen Grüppchen Herumziehenden und in die Gegend Stierenden nennt sie Haie. M. wiederum, der Maschinenbau studiert, findet, die Stadt sei vor allem eines: fad.
Auf dem Balkon aber sitzen die Studenten gern. So nennen sie die halbrunden betonierten Flächen im Park auf dem Campusgelände. Als wir zu sechst nach einem Open-Air-Konzert vor der Universität dorthin kommen, ist es nach Mitternacht. Von dem kleinen Hang aus beobachten wir die letzten Flugzeuge, die auf der Landebahn gegenüber dem Campus aufsetzen. Hinter den Lichterketten des Flughafens ist die Dunkelheit des Meeres. S. stimmt ein türkisches Lied an, die anderen schließen sich an. Es folgen die nächsten schwermütigen Weisen. Wieder einmal handeln die meisten von Liebe.

Sonntag, 18. Mai 2008

Das 'hüzün'-Gefühl

Ob ich es auch spüre? Mit B., dem der Esoterik nahe stehenden Klarinettisten, sitze ich in einem der Lokale rund um Tünel, der den Abschluss der Istiklal Caddesi bildet. Diese Gegend habe ungeheuer viel Energie, erklärt mir B. Hier tue sich auch sehr viel. (Das habe ich nach einem nicht unbedingt an Schlaf reichen Monat im Kneipenviertel von Beyoglu auch schon bemerkt.) Seit tausenden von Jahren wollten die Menschen sich hier ansiedeln, kämpften miteinander um den Platz. Hier haben die Europäer ihre Häuser gebaut, die Griechen ihre Kirchen errichtet, die Juden und Armenier ihre Geschäfte eröffnet. Damit können die meisten türkischen Einwanderer von heute – und es sind derer so viele, dass ein Istanbuler Politiker einmal halb im Scherz laut über Visa für die Stadt nachgedacht hat – nichts anfangen, meint B. Sie spüren es nicht.
Es ist aber auch viel verlorengegangen. Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches, im Zuge des wachsenden und geschürten türkischen Nationalbewusstseins, nach den Vertreibungen vieler Griechen hat auch Istanbul einiges an kultureller Vielfalt eingebüßt. Die Kirchen werden kaum gepflegt; die Häuser, in die arme Familien aus dem Osten eingezogen sind, verfallen. Und noch etwas bedauert B.: den Verlust für die Literatur durch die Umstellung auf das lateinische Alphabet (für die ich persönlich Atatürk äußerst dankbar bin). Die alte Sprachmelodie lasse sich nicht so einfach übertragen; viele osmanische Werke seien gar nicht ins Türkische übersetzt worden. „Im Westen habt ihr eine Kontinuität, eine Entwicklung in der Literaturgeschichte“, sagt B. „Bei uns hat es einen Bruch gegeben. Wir haben keinen Dostojewski, und Schriftsteller wie Pamuk gibt es erst seit einigen Jahren. Unsere jetzige Literatur blickt gerade einmal auf 70 Jahre zurück.“
Da ist es wieder, dieses „hüzün“-Gefühl. Die Melancholie, die auch Orhan Pamuk beschreibt, verspüren nicht nur ältere sondern auch 28-jährige Istanbuler wie B. Es ist diese leise Trauer ob des Verlustes eines prächtigen Reiches, einer wie verzauberten Stadt, die mittlerweile zu einer Metropole mit vielleicht 20 Millionen Einwohnern angeschwollen ist. Es ist das Bedauern darüber, dass der frühere Glanz für immer verlorengegangen ist, dass der alte Charme nicht mehr zu finden ist und stattdessen die Vernachlässigung überall sichtbar wird.
Das könnten Wiener genauso gut verspüren, wenn sie die kaiserlichen Bauten am Ring betrachten. Oder die Warschauer, die ihre Stadt nach 1945 komplett neu aufbauen mussten. Wie so viele andere Orte in Europa wurden diese beiden Städte nach den Morden und Vertreibungen im Zweiten Weltkrieg nie wieder so wie früher.
Dennoch scheint das „hüzün“-Gefühl sich am Bosporus besser entfalten zu können. Es gehört zum „Echter-Istanbuler“-Sein dazu.

Ein Sonntag am Fluss

Das Büfe gegenüber, der Kiosk, wo es neben Zeitungen und Zigaretten auch Käse, Milch und Süßigkeiten zu kaufen gibt, kennt keinen Ruhetag. Ob Montag oder Samstag: Bis in die Morgenstunden steht der Besitzer hinter der Theke und manchmal vor der Tür. Auch der weißbärtige Schuhputzer ums Eck sitzt jeden Tag auf seinem wackeligen Schemel und poliert seinen Kunden die Schuhe. Dennoch scheint sich das Tempo in Beyoglu an einem Sonntag zu verlangsamen. Die Frisörläden füllen sich mit Männern, die sich um einen Euro rasieren lassen. Die nassen Handtücher trocknen auf Wäscheständern auf dem Gehsteig. Der Duft von Rasierwasser vermischt sich mit dem Gestank des Mülls, der unter den Hauseingang eines verlassenen Gebäudes gekehrt wurde. Vor den Teehäusern sitzen 50-Jährige auf Kindersesseln (wie A. die niedrigen Hocker nennt) und lesen die Sonntagszeitung. Auf der Istiklal Caddesi flanieren händchenhaltende Pärchen und laut lachende Teenager.
Ein guter Tag, um an den Bosporus zu gehen, dachte ich mir. Ein Spaziergang am Ufer entlang, ein wenig Grün, Vogelgezwischer und so weiter. Das war der Plan. Den hatte allerdings nicht nur ich gefasst. Hunderttausende Menschen zieht es am Wochenende an den Bosporus. Die Energie, die die laute pulsierende Stadt raubt, gibt der Fluss wieder zurück. Familien packen ihre Picknickkörbe und machen eine Bosporus-Fahrt oder steigen ins Auto und suchen ein Plätzchen, um den Grill aufzustellen. Oder sie marschieren zu den paar Stellen, die den Blick auf den Fluss freigeben. Denn eine längere Uferpromenade gibt es zwischen Besiktas und Ortaköy auf der europäischen Seite nicht. So dränge ich mich mit all den tausenden anderen Menschen auf den Gehsteigen links und rechts der vierspurigen Straße, auf der die Autos im Stau stecken und hupen. Auf der einen Seite eine meterhohe Betonwand, hinter der sich Paläste verstecken. Auf der anderen Seite eingezäunte Grünflächen, die sich den Hügel rauf ziehen und militärisches Sperrgebiet oder versperrtes Universitätsgelände sind. Auf dem Gehsteig ein Hürdenlauf: den spärlich gesetzten Bäumen und Entgegenkommenden ausweichen, die Langsam-Spaziergeher überholen. Eine Stunde geht es so dahin, denn auch auf den Gehsteigen bildet sich Stau.
Endlich kommt Ortaköy, der kleine Stadtteil rund um die barocke Moschee, der sich im Schatten der Hängebrücke über den Bosporus duckt. Auf der Piazza vor der Fähranlegestelle scheuchen die vorbeiziehenden Menschen die Tauben auf. Die Eintreiber vor den zahlreichen Lokalen preisen die Terrassen an, die in den engen Häusern über steile Treppen zu erklimmen sind. Und dann sitzt du dort und beobachtest, wie Yachten, Ausflugsboote, Containerschiffe und Tanker ihre in der untergehenden Sonne schimmernden Spuren durch den Bosporus ziehen. Auf der gegenüberliegenden asiatischen Seite gehen die ersten Lichter an. Die Dämmerung sinkt auf die Stadt. Und in der Nacht verwandelt sich Istanbul in ein blinkendes Lichtermeer, das durch die dunkle Schleife des Bosporus geteilt wird. Die Hängebrücke, die Europa und Asien verbindet, erstrahlt in Dutzenden Farben: Die Lampen wechseln von Rot zu Grün, zu Blau, zu Violett. Wie eine Perlenkette mit unzähligen senkrecht fallenden Schnüren schwebt das beleuchtete Brückengeländer über dem Fluss.

Türkische Maenner und auslaendische Frauen

Neben den politischen und wirtschaftlichen Aspekten gibt es da noch eine Frage, die mich beschäftigt: Warum glauben so viele türkische Männer, dass die meisten Ausländerinnen Schlampen sind? A. hat eine interessante Theorie entwickelt: Im Harem des Sultans waren viele Sklavinnen zu finden. Doch muslimische Frauen durften nicht versklavt werden, also waren es zum Beispiel Griechinnen. Vielleicht rührt das sexuelle Interesse an Ausländerinnen noch aus der Zeit? Doch A. ist eine Frau, und daher ist ihre Erklärung eine rationale. Um die – nennen wir’s – Emotionen zu ergründen, habe ich eine kleine Umfrage unter türkischen Männern gestartet.
O., ein Architekt, der sich eine Ukrainerin zur Frau genommen hat (die seit ihrer Ankunft in Istanbul ziemlich unglücklich ist, weil sie bei seinen Eltern wohnen muss und alleine so gut wie gar nicht außer Haus gehen soll), findet: „Mit Ausländerinnen ist es leichter. Türkische Frauen sind komplizierter: Wir geben alles für sie, und sie erhören uns nicht.“ Heißt das, Ausländerinnen seien leichter zu haben? Nein, nein, so habe er das nicht gemeint, dementiert O. Türkische Männer stieren Frauen halt an.
S., der in einer Bank arbeitet, sieht die fehlende Bildung als Ursache. Wenn die Menschen gebildeter sind, Bücher lesen, ins Kino gehen, reisen und mehr kennenlernen als ihre kleine Welt, dann entwickeln sie auch ein normaleres Verhältnis zu Leuten aus anderen Ländern. Und kurze Zeit später legt S., der Bücher liest, ins Kino geht und reist, mir seine Hand auf den Oberschenkel.
B. wiederum, ein Musiker mit Hang zu Esoterik, erklärt mir, dass ich schon selber wie eine türkische Frau klinge. Ich würde nämlich ebenfalls so viel hinterfragen, obwohl doch den Menschen etwas mehr Naivität gut tun würde. Dann aber versucht B. doch, eine Antwort auf meine Frage zu finden. Türken hätten teilweise einen Sexualkomplex, sagt er. Einerseits mühen sie sich, westliche Muster anzunehmen, auf der anderen Seite aber sind sie in alten Strukturen gefangen. Sie wollen, können aber nicht so, wie sie möchten. Außerdem war in der osmanischen Zeit Vielweiberei gang und gäbe. Das wirke noch fort. Ist zwar keine Entschuldigung, würde aber A.s historische Theorie unterstützen.
M. jedoch, ein Kellner, der seine Berufung in der Schauspielerei sieht und „nur übergangsweise“ in einer Bar arbeitet, meint, es sei gar nicht so. Keinesfalls würden Ausländerinnen alle als Schlampen angesehen. Dann schaut er mir tief in die Augen und fragt, ob ich mit zu ihm komme.

Auf dem Heimweg

Gedränge auf der Fähre nach Kadiköy. Es ist halb sieben abends, ein Wochentag, die Menschen fahren von der Arbeit heim, auf die asiatische Seite. Die langen Holzbänke auf dem offenen Oberdeck sind bis auf den letzten Platz gefüllt. Die meisten Reisenden sind ermüdet, sie haben vielleicht noch einen langen Weg vor sich. In Kadiköy besteigen sie einen der Busse oder Minibusse und fahren noch eine Dreiviertelstunde in eine der Hochhaussiedlungen, die auf den Hügeln südlich des Bosporus eilig hochgezogen wurden. Dort ist es ruhiger als auf der europäischen Seite, weniger gedrängt, grüner. Dort haben sich auch mehr Migranten aus Ostanatolien angesiedelt, haben ihre vom Patriarchat geprägten Strukturen mitgebracht und ihre Kopftuch tragenden Frauen nachgeholt. Doch finden sich dort auch schicke Viertel wie Kadiköy selbst, mit seinen zahlreichen Lokalen, eleganten Einkaufsstraßen und dem am Mittelmeer gelegenen Park, in dem sich im Schatten der Nacht Liebespaare küssen.
Für die Menschen auf der Fähre ist die Überquerung des Bosporus der tägliche Weg, in die Arbeit und dann wieder nach Hause. Was sie dabei sehen, übt für die meisten keine Faszination mehr aus. Gleichgültig gleitet das Auge an der Silhouette Istanbuls vorbei, am Stadtteil Beyoglu mit dem markanten Galata-Turm, an der Landesspitze mit dem weitläufigen Topkapi-Palast, hinter dem sich Hagia Sophia und Sultanahmet-Moschee erheben, an den Tankern, die auf die Überfahrt warten.
Die Stadt hat so viele nicht wegen ihrer Sehenswürdigkeiten angezogen, sondern wegen der Arbeitsmöglichkeiten. Die Banken, die Unternehmen, die ausländischen Vertretungen haben ihren Sitz in Istanbul. Menschen, die ihr Geld in Lokalen ausgeben wollen, brauchen Kellner, Köche und Sänger. Die haben in der Woche nur selten mehr als einen freien Tag, und ein Arbeitstag hat leicht 12 Stunden. Das Mindestgehalt in der Türkei beträgt an die 230 Euro, davon ist eine Wohnung in Istanbul kaum zu haben. Die Menschen weichen auf die asiatische Seite aus, wo die Unterkünfte billiger sind. In den noblen Vierteln auf der europäischen Seite kostet allein die Miete im Monat so viel wie ein kurdischer Muschelverkäufer in einem halben Jahr verdient. Bis spät in die Nacht steht der Mann a einem Straßeneck an der Istiklal Caddesi, bietet dem durch die Lokale ziehenden jungen Publikum die mit einer Reispaste gefüllten Muscheln an. Wenn ein Grüppchen stehen bleibt, sucht er ein paar Muscheln aus, öffnet sie, beträufelt sie mit Zitrone, reicht eine nach der anderen seinen Kunden, die gleich essen, zahlen und ins nächste Beisl gehen. Erst um drei, vielleicht vier Uhr nachts räumt der Verkäufer zusammen, nimmt das riesige Blechtablett vom hölzernen Ständer, klappt diesen zusammen, klemmt ihn unter den Arm und macht sich auf seinen Heimweg.

Donnerstag, 1. Mai 2008

Mit Gasmasken zur Arbeit

Am 1. Mai nehmen Kameraleute und Pressefotografen Gasmasken mit zur Arbeit. Denn da gibt’s in Istanbul Wickel. Demonstrationen auf dem zentralen Taksim-Platz sind verboten. 1977 wurden dort bei der Mai-Kundgebung 35 Menschen getötet, durch Schüsse aus einem der umliegenden Hotels und zu Tode getrampelt in der danach entstandenen Panik. Drei Jahre später, nach einem Militärcoup, wurde der 1. Mai als Feiertag abgeschafft. Das Tauziehen zwischen den Gewerkschaften und der Regierung um den 1. Mai währt seit damals; der Kampf um den Taksim-Platz hat sich in den vergangenen Jahren verschärft.
Die Gewerkschaften haben angekündigt, trotz Verbot mit hunderttausenden Menschen zum Taksim-Platz zu ziehen. 30.000 Polizisten stehen dort bereit. Der sonst verkehrsumtoste Platz, zu dem sechsspurige Straßen führen, ist abgeriegelt; keine Autos, keine Menschen werden durchgelassen. In Autobussen und teils in Flugzeugen wurden die Polizisten dort hingekarrt. Sie tragen Helme und panzerartige Westen, die Gasmasken und Gummiknüppel halten sie bereit. Auf der Istiklal Caddesi, wo sonst von Taksim aus ein Meer an Köpfen zu sehen ist, haben sie mehrere Blockaden aufgebaut. In den Kaffeehäusern und Kiosken sind die Rollos runtergelassen. Die Tischchen vor den Lokalen sind verschwunden. Polizeihubschrauber kreisen über der Stadt.
Obwohl die Gewerkschaften am späten Vormittag – nachdem die Polizei eine Demonstration in einem anderen Stadtteil mit Tränengas und Wasserwerfern aufgelöst hat – ihren Plan aufgeben, zum Taksim-Platz zu ziehen, versuchen einzelne Gruppen durchzudringen. In einer der engen Gassen, die zur Istiklal führen, formieren sie sich. Es sind großteils junge Menschen. Knapp vor der Istiklal entrollen sie ein rotes Transparent und beginnen zu skandieren. Ein paar Jugendliche auf der Istiklal applaudieren. Einer hebt einen Stein vom Boden auf, zerschlägt ihn in zwei Hälften, steckt sie in die Hosentaschen. Sekunden später – die Gruppe ist auf der Istiklal angelangt – fliegen Flaschen und Steine auf die umliegenden Gebäude, der nächstgelegene Polizeitrupp hat sich in Bewegung gesetzt, ich spüre das Tränengas. Mit einem Fotografen ducke ich mich in einem Hauseingang. Die Bewohner lugen hinter der verschlossenen Haustür hervor. Auf einmal rennt ein Grüppchen von Menschen an uns vorbei, einige flüchten in das danebengelegene Kaffeehaus. Die Gäste dort lassen die Tür offen, damit die Menschen reinkönnen. Doch dahinter rollen schon die Polizisten heran. Sie rauschen an uns vorbei, und ich frage mich, ob ich auch Prügel abbekomme, weil die Gummiknüppel völlig wahllos zuschlagen. Einige Polizisten stürmen in das Kaffee, treiben die Menschen auf die Straße, packen einige am Kragen, schlagen um sich. Ein Mann, dem das Blut über die Stirn rinnt, stolpert, kniet auf dem Boden. Ein Polizist drischt weiter mehrmals auf ihn ein, auf die Brust, den Rücken. Eine junge Frau schreit und weint; ein Kameramann läuft zu ihr hin, um eine Großaufnahme von ihrem Gesicht zu machen. Sie wendet sich ab, schreit ihn an. Mehrmals hebt das Gebrüll der Polizisten und Demonstranten an, schwillt wieder ab. Mehrmals laufen noch Menschengruppen hustend und mit verschwollenen Gesichtern durch die Gassen vor den Tränengas-Schwaden davon.
Am späten Nachmittag erst ziehen die Demonstranten und Polizisten ab und die Flanierenden in die Istiklal wieder ein. Am Abend ist die gläserne Front von Benetton, die Steine fast zertrümmert hätten, wieder repariert. Die Polizei soll an diesem Tag 1700 Tränengasbomben verbraucht haben.

Montag, 28. April 2008

FUSSBALL!

Selten entspricht das Klischee der Realität, doch bei der Fußballleidenschaft in der Türkei ist es der Fall. Es ist tatsächlich so: Die Treue zu einem Verein gleicht einem Glaubensbekenntnis. Ob Besiktas-, Galatasaray- oder Fenerbahce-Fan; es ist ein Teil der eigenen Identität. Und wenn zwei dieser Istanbuler Teams gegeneinander antreten, herrscht Ausnahmezustand in der Stadt. So auch beim gestrigen Superliga-Spiel, als Galatasaray Spitzenreiter Fenerbahce herausforderte. Schon am frühen Nachmittag füllen sich die Straßen mit Menschen, die ihre Sympathie nach außen tragen. In der Fußgängerzone der Istiklal Caddesi, wo auch das mächtige Galatasaray-Gymnasium steht, überwiegen die Fans der Löwen. Die gelb-roten Schals und Trikots leuchten von weitem. Auch die Kellner in den Cafes rund um den Taksim-Platz haben sie bereits angelegt. Nur eine Kellnerin bildet eine Ausnahme: Sie trägt ein gelb-dunkelblaues Band um den Hals; sie hält zu Fenerbahce. Vor den Wettannahmestellen bilden sich Schlangen. Im Hotel werde ich gebeten, den Tisch aus meinem Zimmer herzuborgen: Im Restaurant und in der Lobby werden alle vorhandenen Tische für das abendliche Publikum vor dem Fernseher zusammengestellt. Auf dem Taksim-Platz postieren sich mehrere Polizei-Einheiten und Wagen des Roten Halbmondes.
Die Lokale verdienen doppelt: Sie verlangen Eintritt. Der kostet zehn Lira, fast so viel wie drei Bier. Du zahlst also Eintritt, damit du mit anderen Verrückten in einem schäbigen Beisl vor einem Fernseher – die Plätze vor dem Großbildschirm sind schon alle besetzt – hocken und dir den Hals verrenken kannst, weil du neben einer Säule sitzt und ausgerechnet jetzt einer der wenigen Türken auftaucht, der größer ist als du und sich prompt vor dich setzt. Und dann kommt das übliche Schreien, Stöhnen und Seufzen bei einem Match, nur halt etwas lauter und von in die Höhe schellenden Armen begleitet. Auf das Tor für Galatasaray in der 37. Minute folgt minutenlanger Jubel. Es bleibt beim eins zu null.
Nach Ende des Spiels leert sich das Lokal innerhalb von fünf Minuten. Aber die Menschen gehen keinesfalls zufrieden heim, doch nicht nach einem Sieg! Eine halbe Stunde später zieht eine Gruppe Galatasaray-Fans durch die Istiklal Caddesi, schwenkt Fahnen, schlägt Trommeln. Der Gesang schwillt an, gelb-rot weht durch die Straße. Auf einmal hockelt sich eine Gruppe nieder, einer schreit etwas vor, die anderen schreien es nach. Bald stehen sie wieder auf, und der Triumphzug setzt sich erneut in Bewegung.
2002, nach dem Einzug der türkischen Nationalmannschaft ins WM-Halbfinale, hat es sieben Tote gegeben. Sie wurden von Autokonvois durchgeknallter Fans überrollt. Zwei Dutzend Menschen wurden verletzt, weil sie Freudenschüssen im Weg gestanden waren.
Das Superliga-Spiel forderte diesmal keine Todesopfer.

Mittwoch, 23. April 2008

Ein Alltag

Wenn ich in der Früh auf den Balkon hinaustrete, steht der Mann, der in der Schneiderei gegenüber arbeitet, bald am Fenster und winkt mir zu. Es ist heiß in dem Raum, in dem ein Dutzend Männer an irgendwelchen Maschinen steht. Mein Fensterbekannter trägt daher leider nur ein Unterhemd über der Hose. Letztens hat er mir über die Straße eine Tasche angeboten. Zum Kauf? Als Geschenk? Keine Ahnung.

Mein geliebter türk kahvesi kostet manchmal mehr als das ganze Frühstück davor. Im übrigen lässt es sich in Istanbul sehr billig essen, wenn jemandem ein Imbissstand a la Würstelbude genügt. Dafür kostet der Eintritt in eine Disco das Zehnfache einer solchen Mahlzeit.

In einem Innenhof hat ein Buchhaendler alte Taschenbücher auf einem Gestell vor seinem Laden drapiert. Eine Katze hat sich einen besonders sonnigen Stapel ausgesucht. Sie hat sich zusammengerollt und schlaeft auf den Büchern.

Mit meiner chinesischen Kurskollegin gehe ich auf einen Kaffee. Sie trinkt Cola, ich trinke Bier. Wir unterhalten uns auf Türkisch, und da unser Wortschatz sehr eingeschränkt ist, sprechen wir über das, was wir in einfache Worte fassen können: über Männer. Da habe es schon ein paar gegeben, sagt G. Und, ja, es gebe durchaus hübsche Türken in Istanbul. Aber jetzt schaue sie nur einen an. G. ist erst seit wenigen Monaten verheiratet. Ihr Mann ist Ujgure und nach Istanbul wegen seiner Weiterbildung gekommen. Sie hat ihn beim Arzt kennengelernt: Er war der Arzt.

Soviel verstehe ich schon: „Ist sie allein gekommen?“ fragt ein Kellner den anderen im Restaurant. Ich will einfach nur in Ruhe zu Abend essen. Doch die Menschen sind meist zu freundlich, um das zu erlauben. Daher erkläre ich, woher ich komme und was ich hier mache. Und schon bietet sich der nächste Kellner an, mir Nachhilfeunterricht zu geben. In Türkisch.

Die Möwen, die in der Nacht über Istanbul fliegen, strahlen. Sie sind von den Lichtern der Stadt beleuchtet.

Vier Polizisten in Zivil

S. erzählt mir von ihren Erfahrungen mit Polizeigewalt in Istanbul. Es war während des vergangenen Ramazan – muss also irgendwann im September gewesen sein. Mit zwei Freundinnen war sie um vier in der Nacht mit dem Taxi unterwegs nach Hause. Auf einmal hielt ein Polizeiauto den Wagen an. Zwei Polizisten stiegen aus, verlangten von den jungen Frauen einen Ausweis. Sie haben das Recht dazu. Doch die Bürger wiederum haben das Recht, den Beamten zu sagen, sie sollen sich selbst ausweisen. Das taten die Frauen doch glatt. Leichte Verärgerung bei den Polizisten, dann zeigte einer einen Ausweis, verdeckte dabei aber sowohl Namen als auch Foto. „Wir wollen den ganzen Ausweis sehen“, forderte S. „Wir sind in Uniform, fahren einen Polizeiwagen. Das muss euch genügen“, war die schon sehr ungeduldige Antwort. Auf einmal hielt ein anderes Auto an, vier Männer stiegen aus, erfassten die Situation schnell. Und handelten: Sie fingen an, die Frauen zu beschimpfen, sie zu stoßen und gegen das Taxi zu werfen. Der Taxifahrer versuchte zu vermitteln, eine von S.s Freundinnen wollte die Polizei rufen. Denn die, die da war, tat nichts. Schließlich wurden die Frauen ins Taxi gestoßen und konnten fahren. Wie sich dann herausstellte, waren die Angreifer ebenfalls Polizisten – in Zivil. Anscheinend wollten sie ihren Kollegen „zu Hilfe“ kommen, nachdem sie gesehen hatten, dass sonst nichts gegen die Frauen vorliegt. Das sagte S. ein Anwalt, den die Freundinnen kurz danach konsultierten. Machen lasse sich allerdings gegen die Polizisten nichts, erklärte er. Die Frauen hätten ja keinen medizinisch bestätigten Schaden davongetragen.

Musik, Melancholie und die Folgen

Bei der Musik gibt es gar keine andere Möglichkeit: Du musst dich verlieben. Selbstverständlich unglücklich – und jeden zweiten Tag in jemand anderen (nur jeden zweiten? fragt H. am Telefon). Denn die Auswahl ist groß. Die erste Leidenschaft in Istanbul war Powertürk selbst. Das könnte ich mir schon zum Frühstück reinziehen. Der Musikkanal ist voll der wehmütigen Weisen, die meist von Liebe handeln, die alles mögliche ist: Berge versetzend, Meere überwindend, den Schlaf raubend, heftig, stark, ewig – aber meist nicht erfüllt und manchmal nicht einmal erwidert. Zum Pulsadern aufschneiden, wie es ein spanischer Kurzzeit-Bekannter formulierte. Er konnte den türkischen Pop nicht ausstehen. Ich aber kann dem durchaus etwas abgewinnen. Da gibt es zum Beispiel ein Musikvideo von Tarkan, in Schwarz-Weiß gehalten, wo der Mann im halb aufgeknöpften Hemd im Regen steht. Der rinnt ihm wasserfallartig über den Kopf, die ausgebreiteten Arme, über die Brust. Dann steht er hinter einem verregneten Fenster und singt schmachtend. Ich bin nicht sicher, an wen sich das Video tatsächlich richtet, wahrscheinlich sollen aber Frauen angesprochen werden. Wie auch immer, die Melancholie hängt in der Luft. Doch anders als jene von Orhan Pamuk beschriebene, die vom Wehmut über den Verlust eines strahlenden Reiches geprägte, ist diese Melancholie von Sexuellem durchtränkt. Die Männer schauen dir tief in die Augen, flöten dir blumige Texte ins Ohr. Haben sie die aus den Musikvideos gelernt oder den türkischen Schnulzenfilmen der 70er-Jahre? Die Frauen sehen umwerfend aus, mit ihren schwarzen Haaren, dunklen Augen und ihrem selbstbewussten Auftreten. Die Männer begrüßen einander mit Küssen, die Frauen fallen einander in die Arme, alle werfen sich Kosenamen wie – frei übersetzt – „mein Lebenshauch“ oder „mein Herz“ zu. In Beyoglu sind die in der Nacht Herumziehenden zu einem wesentlichen Teil jung, hübsch und vergnügungssüchtig. Mithineingezogen zu werden ist nicht schwierig. Ich kann quasi gar nichts dafür...

Ein Parkplatz!

Parken um Mitternacht in Beyoglu: Zumindest für die Zuseher ist es interessant. Die engen Gassen sind voller Menschen, die auf der Suche nach dem für sie passenden Lokal sind. Trotzdem schaffen es die Autofahrer noch, ihre Gefährte langsam dazwischen zu bewegen, um dann links und rechts der bevölkerten Fahrbahn zu parken. Die Spiegel sind eingeklappt, zwischen der Hausmauer und der Autotür ist nur etwas mehr als eine Handbreit Platz. Jemand hat noch eine Lücke entdeckt. Doch auf einmal ist ein Problem da: Der Wagen kann sich nicht mehr bewegen. Er ist eingeklemmt. Hinter ihm sind plötzlich zwei Autos; vor ihm, aus der Gegenrichtung in der einzigen Fahrspur kommend, drei. Der Besitzer des Dönerladens, der sowieso meist auf der Straße steht, ist sofort zur Hilfe bereit. Er versucht, das auf der Straße eingeklemmte Auto irgendwie zu dirigieren. Der Friseur vom Geschäft nebenan gibt den nachfolgenden Wagen Zeichen. Ein Junge, der gerade vorbeikommt, ruft den Lenkern, die von der Gegenrichtung kommen, etwas zu. Zwei Fahrer steigen aus, beraten kurz. Ein paar andere Menschen schauen zu. Ein Auto schiebt zwanzig Zentimeter zurück, ein anderes fährt 30 Zentimeter nach rechts. Der Parkplatzsuchende fährt mit Mühe in die Lücke an der Hausmauer. Zwischen ihr und dem Wagen könnte nicht einmal mehr eine der streunenden Katzen hindurchschlüpfen. Ein Fahrer schiebt noch mehr zurück, ein anderer kann vorbeifahren; alles geschieht unter lauten Zurufen des Publikums. Irgendwie löst sich der kleine Stau auf, irgendwann – so wie immer in Istanbul.

Freitag, 11. April 2008

Philosophie zum Bier

Philosophie ist für einen Muslim nichts gutes, befand einst ein islamischer Gelehrter. Kein Wunder, dass sich auf diesem Gebiet in den letzten paar hundert Jahren mehr in Europa getan hat als im islamischen Raum. Mein neuer Bekannter U., der mir das erklärt, wirft gleich ein paar Namen dazu: Descartes, Hobbes oder Kant etwa. Wir sitzen bei einem Bier in der menschenumtosten Nevizade-Straße und sind vom Kellner schon zweimal umgesetzt worden, weil in dem winzigen Schanigarten Platz für eine größere Gruppe zu schaffen war.
U. ist ein entzückender junger Mann, der Philosophie studiert hat, sich jetzt aber mehr mit Wirtschaft beschäftigt, als Sportjournalist arbeitet und seine Freizeit – im Normalfall – gern mit seinen Eltern sowie Geschwistern verbringt. Sein Studium habe ihn von der Religion entfernt, sagt er. Er sei zwar weiterhin Muslim, aber kein strenger, fast schon an der Grenze zum Atheismus. „Muslim ja, aber…“ ist im übrigen in der Türkei immer wieder zu hören, vor allem in den Städten, wo nicht nur Arm und Reich aufeinanderprallen sondern auch verschiedene Volksgruppen mit ihren Kulturen, Jugendliche aber gleichzeitig den Stars in den Musikvideos mehr abschauen als traditionelleren Vorbildern. U. ist ein hübsches Beispiel für die Durchmischung in dem Land. Sein Vater ist Kurde, seine Mutter kommt aus Aserbaidschan. Doch selbst er sagt voller Überzeugung: „Von Minderheiten in der Türkei zu sprechen ist Blödsinn. Wir sind doch alle Türken.“ Diese Ein-Staat-ein-Volk-Ideologie wird den Kindern ab ihrem ersten Schuljahr vermittelt. Sie soll das Einigende in einem Land sein, das auf der Suche nach seiner Identität seit 80 Jahren zwischen Ost und West schwankt; das sich die – keinesfalls von allen gewünschte – „Verwestlichung“ auf die Fahnen geschrieben hat. Sie ist eine Philosophierichtung für sich.

Zimmer mit Ausblick

Der Ausblick hat mich blind für alles andere gemacht. Von dem winzigen Balkon aus ist halb Istanbul zu sehen, fast bis zum Bosporus. Das Häusermeer ist auf der einen Seite, auf der anderen schaue ich vom fünften Stock in die engen Gassen von Beyoglu hinunter. Ich sehe die gelben Taxis, die sich in der Nacht mitten auf der Straße zu einer Schlange auffädeln; die kleinen Geschäfte, die Getränke und Zigaretten, Reinigungsmittel oder noch warmes Weißbrot verkaufen; die Straßenhändler, die ihre Handkarren schieben; die Lokale vor denen niedrige Tischchen stehen und die Menschen, die untertags vorbeieilen und am Abend herumschlendern. Auch das Zimmer ist nett mit seiner Dachschräge und in warme Farben getaucht. Und es ist sauber. Nach all den Absteigen, die ich gesehen habe und die schon für zehn Euro die Nacht zu haben sind, stört es mich kaum, dass die Duschkabinentür mir vielleicht bald entgegenfliegt oder der Vorhang etwas zerrissen ist. Das mit dem Schlafen habe ich mir sowieso schon abgeschminkt, vom Zimmer neben der Baustelle bin ich halt mitten ins Weggeh-Viertel gezogen. Immerhin wird das Gehupe um vier in der Nacht etwas weniger; bleiben dann drei, vier Stunden, bevor es wieder voll losgeht.
Allerdings habe ich schon drei Mitbewohner getötet: zwei Ameisen und eine Schabe. Dass es eine Schabe war, nehme ich zumindest an. Diese Frage diskutierte ich in der Nacht mit dem Patron des Hotels, der mit einer Wow-Blondine auf einen Whiskey vorbeigekommen ist. Selbstverständlich sprachen wir türkisch. Zuerst erklärte ich ihm in fluent turkish, dass im Zimmer „Leben“ ist. Dann erinnerte ich mich an das Vokabel für „Tiergarten“. „Hayat“ und „Hayvanat“ liegen ja wirklich nahe zusammen. Danach bückte ich mich und zeigte mit den Fingern auf dem Boden Schritte an. Schließlich zeichnete ich das Tier in meinem Lehrbuch auf. Die Begleiterin des Patrons hat viel schneller begriffen als er. Am Ende klärten wir noch ab, welche Farbe das Insekt hatte: braun, nicht schwarz. Danach waren wir alle sehr zufrieden, dass wir uns so gut verstanden haben und rauchten eine letzte Zigarette. Das muss doch reichen.

Zu viele "ü"

Sprachunterricht zu geben muss ziemlich nervenaufreibend sein. Zu viert sitzen wir Neslihan gegenüber, die sich unser Gestammel anhört. „Ütülülüjejeüjüejiüjü“ jammern wir. Rauskommen soll: „Ütüleyeyim mi?“ und „ütülemeyelim“ – „Soll ich bügeln?“ und „Lasst uns nicht bügeln.“ Intensiv sollte es ja sein. Aber gleich so? Im Türkisch-Kurs wird tatsächlich nur Türkisch gesprochen. Neben mir nehmen noch eine Ukrainerin, eine Russin und eine Chinesin am Unterricht teil. Sie alle sind nach Istanbul gezogen, weil ihre Männer hier Arbeit angenommen haben. In den Pausen sprechen die Ukrainerin und die Russin miteinander russisch, die Chinesin und ich lächeln einander an, versuchen es mit türkisch und kehren dann zum lächeln zurück. Am dritten Tag habe ich allerdings ein Erfolgserlebnis: Ich warte vor dem besetzten Klo, eine andere Frau kommt dazu. Ihre Frage verstehe ich – und das auf Anhieb: „Warten Sie?“ Ich nicke glücklich.

Sonntag, 6. April 2008

Reden über Politik

„Du bist allein? Setz dich zu uns!“ Als Frau allein in Ruhe ein Bier zu trinken, ist auch in Istanbul nicht immer einfach. Schon sitzt du an einem Tisch mit drei Sportjournalisten und der eine erklärt dir, wie nett dich der andere findet. Um abzulenken, kannst du von Fußball reden – oder von Politik. Bei beiden Themen wallen die Gefühle auf. Das erste ist durchaus positiv und mit Stolz durchtränkt: Immerhin hat das Istanbuler Team Fenerbahce erst vor wenigen Tagen Chelsea geschlagen. Bei der Politik aber – uffuffuff, wie manche Türken seufzen. Die drei Männer sind Kemalisten, und auch darauf verweisen sie mit Stolz. „Wenn du an die Türkei denkst: Welcher große Name fällt dir als erster ein?“ fragt C. Und antwortet gleich selbst: Mustafa Kemal Atatürk. Für den würde er sein Leben hingeben, sagt er. C. ist 26 Jahre alt, und er würde für Atatürk sterben. Der Republikgründer ist seit 70 Jahren tot, aber weiterhin allgegenwärtig – nicht nur deswegen, weil sein Porträt in allen öffentlichen Räumen zu sehen ist sowie auf allen Geldmünzen und –scheinen prangt. An seiner Person werden auch unzählige politische Debatten aufgehängt. Für manche Kemalisten ist dabei die Argumentation recht einfach: Sie hüten die Prinzipien von Säkularismus und Modernisierung, wie es Atatürk aufgetragen hat. Sie formulieren es auch so. Die regierende Partei AKP hingegen verrät diese Leitlinien. Das Kopftuch-Verbot an Universitäten soll fallen? „Das ist für uns absolut unakzeptabel“, stellt C. klar. „Wir sind nicht der Iran“, fügt U. hinzu. „Wir werden das nicht zulassen.“
U. hat auch eine Erklärung dafür, warum fast die Hälfte der Türken die AKP gewählt hat. „Die Leute sind wie Schafe. Sie folgen dem, der sie ruft. Viele haben keine Bildung, noch dazu sind ihre Stimmen gekauft.“
A. hat sich während der Diskussion stark aufs Biertrinken konzentriert und will die Debatte abschließen: „Scheiß auf die Politik.“ Ein Lokalwechsel steht an.

Die naechstgelegene Baustelle

Schlafen ist in Istanbul zum Abgewöhnen. Nicht nur wegen der Lokale, der kleinen Kneipen und feinen Clubs, die es unmöglich machen einfach am Abend heimzugehen, selbst wenn der beste Vorsatz da ist. Nicht nur wegen des Verkehrslärms und des Gehupes, das schon so früh beginnt, dass es verwunderlich ist, wie viele Menschen schon wach sind. Auch wegen der Bauarbeiten. Die können gar kein Ende nehmen in einer Stadt, die ständig wächst. Die nächstgelegene Baustelle ist fünf Meter von meinem Hotelzimmer entfernt. Ein altes Gebäude wurde abgerissen, ein neues muss her. Gebaggert wird auch in der Samstagnacht, um Mitternacht, um eins, um zwei. Das Schürfen in der Erde, das Piepsen des zurücksetzenden Lkw, die Schreie an den Fahrer „Gel, gel!“ – „Komm!“: Es ist unentwegt zu hören.
Am Sonntag Vormittag ist die Baustelle eine der größeren Attraktionen in den umliegenden zwei, drei Gassen. Ein halbes Dutzend Männer sieht den Arbeiten zu, raucht Zigaretten, kommentiert. Ein Page aus einem der umliegenden Hotels steht in seiner rotgoldenen Uniform vor einem Steinhaufen. Einer aus dem Publikum hilft ein paar Bretter über die Baustelle zu tragen, ein anderer legt mit Hand an, um die schwere Plastikplane zu befestigen, die über den mit Erde befüllten Lkw gelegt wird. Auf einmal fängt es an zu nieseln. Behäbig gehen die Männer auseinander, ohne Eile schlendern sie weiter, die Hände in den Hosentaschen. Die kleinen Teehäuser füllen sich.

Nicht kommunizieren geht nicht

Diese Stadt ist nicht zu fassen. Istanbul, der Kosmos mit seinen 15, vielleicht auch 20 Millionen Einwohnern, mit seinen osmanischen Legenden, seinen Verfallserscheinungen und dem gierigen Wachstum, den Klischees rund um den Orientexpress und die Hippies, die in den 60er-Jahren hier auf ihrem Weg nach Indien Halt machten. Im Grunde ist es aber auch eine Ansammlung vieler Städtchen und vieler kleiner Geschichten. Und gäbe es eine Steigerungsform von unmöglich, wäre es in Istanbul unmöglicher nicht zu kommunizieren als in vielen anderen Städten.
Wie in einem Dorf, wo sich ebenfalls viel Leben auf der Straße abspielt, ist es in den einzelnen Vierteln so gut wie ausgeschlossen, keinem Freund, Cousin oder Kollegen zu begegnen. Die Zeitungslektüre vor dem Teehaus wird für eine Plauderei unterbrochen, der Gehilfe wird ums Eck zum Zigarettenholen geschickt.
Die Anonymität der Großstadt ist in den gläsernen Geschäftsvierteln zu finden, aber auch dort kann es vorkommen, dass durch die Straßen eilende Geschäftsleute stehen bleiben, weil sie einen Bekannten getroffen haben. Ein „Merhaba“, ein Hallo und kurzes Händeschütteln reicht da nicht, ein paar Sätze muss man schon wechseln.
Im Stadtteil Sultanahmet – das viele Reisende nicht einmal verlassen, weil dort Sehenswürdigkeiten wie die Hagia Sophia oder der Große Bazar sind – gibt es vor den Lokalen eigene Kommunikationsbeauftragte. Sie sollen Touristen dazu bringen, in das Restaurant reinzukommen. Sie müssen mit allen Mitteln die potenziellen Kunden in ein Gespräch verwickeln – und sei es, indem sie eine Schwester erfinden, die (welch Zufall!) den gleichen Namen trägt wie die Vorbeigehende.
Die Familie kommt auch beim Handeln oft ins Spiel. Im Geschäft zeigt sich der Verkäufer unglücklich, dass seine Kinder verarmen, wenn er mit dem Preis so weit runtergeht. Im Hotel gibt es einen Preisnachlass, „den nicht einmal mein Vater bekommt, wenn er mich besucht“, sagt der Rezeptionist. Das Feilschen, das Übertreiben und Überreden, das Verdienen wollen: Wo viele Menschen hinkommen, gehört es dazu.

Montag, 7. Januar 2008

Heimatlose Bettnässer

H. sagt, wenn zwei Frauen gemeinsam weggehen, dann um Typen aufzureißen. Stimmt nicht. Sie wollen sich unterhalten. Dass ihnen dann Typen über den Weg laufen, nehmen sie in Kauf. Manchmal nehmen sie sie auch mit.
Die Menschen, die von Lokal zu Lokal ziehen und nicht heimfinden, nennt H. heimatlose Bettnässer. Das stimmt. Aber manche mögen’s so. Ich gehöre sogar dazu. Nicht jeder hat mit 30 Jahren Frau oder Mann, zwei Kinder und einen Hund im gerade auf Kredit gekauften Eigenheim sitzen, zu denen er oder sie nach der Arbeit eilen will. Andererseits wäre das Leben auch nicht ärmer ohne so manche Unterhaltung, die in Lokalen geführt wird.
Da sitzt du zum Beispiel an der Bar im „Europa“ (und du brauchst keine zweite Frau, um Typen aufzureißen), trinkst in Ruhe dein Bier und auf einmal bist du flankiert von zwei Männern. Zu deiner Linken platziert sich der „Ich arbeite bei einer Versicherung, aber es gefällt mir eigentlich nicht so gut dort“-Typ; zu deiner Rechten sitzt ein Student, der dich um Zigaretten anschnorrt (er armer Student, du arbeitende Frau, also kein Problem). Beide sind sympathisch. Der eine schwärmt von deinen grünen Augen – die sind zwar blau, aber schieben wir es auf die spärliche Beleuchtung. Der andere erklärt dir, wie interessant ältere Frauen sind. Du bist zwar 33 und nicht 53, du lächelst dennoch altersmilde.
Und dann wollen beide den Rivalen loswerden. Sie flüstern dir die Frage ins Ohr, was du eigentlich von dem anderen Typen willst.
Es reicht. Du gehst. Nice try, Burschen. Aber diesmal nicht.

„Na, so allein hier?“

„Du hast es gut“, sagen Männer. „Du bist eine Frau.“ Das sagen sie nur, wenn es um Aufrisse geht. Einkommensunterschiede hin, Geschlechterrollen her – als Frau kannst du leichter einen Mann aufreißen als Männer eine Frau aufreißen können. Undenkbar, dass ein Mann macht, was eine Frau machen kann: Augenkontakt aufnehmen, dann zu dem Typen hingehen und in ironischem Ton fragen: „Na, so allein hier?“
Oder ein Getränk spendieren: Es kommt einfach besser, wenn eine Frau den Barkeeper beauftragt, einen Drink über den Tresen wandern zu lassen als wenn es ein Mann macht. Das gleiche gilt, wenn es die Frau ist, die einem Mann nach einer halben Stunde Eingangsgeplänkel in die Augen schaut und fragt: „Zu dir oder zu mir?“
So machen sich Männer viel mehr Gedanken über den perfekten Anmach-Spruch als Frauen. Ein Bekannter hat die Lösung für sich gefunden. „Der beste Spruch“, behauptet er, „ist noch immer der einfachste. Du gehst hin und sagst Hallo.“ Einverstanden, nur muss dann auch etwas Intelligentes nachkommen.

Sport

M. hat jahrelang Karate geübt. K. hat sich als Aerobic-Trainerin Geld fürs Studium verdient. A. geht klettern (ist seit ein paar Jahren total in Mode). B., C., D., E. und F. gehen laufen (das gehört einfach dazu). Ich bin ein Loser. Ich mache keinen Sport. Ich habe sogar Radfahren verlernt – mit ein bisschen Disziplin geht das.
Dennoch bin ich letztens am Berg gelandet. Es war mehr ein Hügel, aber egal. Der Weg zur Hütte sei ein Familienspaziergang, wurde mir versichert. Es gingen ja auch tatsächlich Jungfamilien mit ihren drei- bis fünfjährigen Kindern rauf, ältere Paare und auch Hochschwangere. Alle, wie es sich gehört, in ihren Goretex-Jacken, den luftdurchlässigen aber wasserabweisenden Hosen, den festen Wanderschuhen und maschinengestrickten Mützen. Und mittendrin ich: mit meinem Alpaka-Mäntelchen, den Stiefeln über der Jeans (ich konnte meine Wanderschuhe nicht finden) und dem Hut, der so wunderbar warm ist.
Kein Wort darüber, wie ich die paar Höhenmeter überwunden habe, wie ich gekeucht habe, wie sehr die noble Blässe im Gesicht einer seltsamen roten Farbe gewichen ist.
Ich bin nun mal keine Jungfamilie, kein Kind, kein älteres Paar und keine Hochschwangere. Ich bin nun mal eine Stadtpflanze. Ich brauche die Natur nicht und auch nicht die körperliche Ertüchtigung. Ich brauche mein Kaffeehaus, mein Lokal, mein Bier und meine Zigarette. Und genau das habe ich mir drei Stunden nach dem Hügelberg im „Engländer“ geholt. Gut, Alkohol mag keine Lösung sein. Aber (Achtung: Lebensweisheit): Sport ist es auch nicht.

Hip sein

Kein Mensch, der hip ist, würde heutzutage „hip“ sagen (abgesehen davon, dass es laut neuer Rechtschreibung mit doppel-p geschrieben werden müsste, und dann würde es „hipp“ heißen). „In“ klingt schon besser, ist aber auch schon veraltet. Doch wer, der älter als 25 ist, kann „krass“ oder „fett“ sagen? Wir bleiben also kurz bei „in“. Wie auch immer, vor kurzem klagte K., dass es schade sei, nicht mehr so hip zu sein wie früher. Damals, als die Veranstaltungen, die in FM4 beworben wurden und zu denen man hingegangen ist, wirklich in waren und du mittendrin im In-Sein. Damals, als einem der „Falter“ sagte, was angesagt ist.
Ich war leider niemals in. Deswegen kann ich es nicht beklagen, dass ich es nicht mehr bin. Das hat was Beruhigendes.

Älterwerden

Ich kann es nicht mehr hören. Dieses Gejejere ums Älterwerden. Wenn du die 30 überschritten hast, kommst du nicht drumherum – weil alle Altersgenossen glauben, du musst das doch auch so empfinden. Die Haut wird schlaffer, die sexuelle Attraktivität sinkt. Blablabla. Schlimm genug, dass sich in der Arbeit S. und M. darüber unterhalten, dass Zur-Maniküre-Gehen ab einem bestimmten Alter notwendiger wird. Aber das Thema verfolgt mich bis an die Bar. Da sitze ich letztens mit O. in einem Lokal. Nein, noch ein Bier geht nicht, höre ich. Und dann kommt’s: Ja, früher, da haben wir viel besser saufen können. Was haben wir für Festl g’schmissn! Früher war der Kater auch nicht so schlimm. Früher sind wir überhaupt viel mehr fortgegangen. Aber jetzt steckt das der Körper nicht mehr so leicht weg. Auf den muss man dafür jetzt besser achten. Es ist ja immer schwieriger, die Figur zu halten. Ach ja, ob ich B. gesehen habe? Gerade von einer Wellness-Kur zurückgekommen. Richtig aufgeblüht. Während ich mir das anhöre, bestelle ich noch ein Bier.
Habe ich schon erwähnt, dass S., M., O. und B. Männer sind?
Im übrigen (Achtung: Lebensweisheit von Karl Valentin): Früher war sogar die Zukunft besser.

Tiger und Thermometer

Cafe Prückel, Samstagnachmittag.

Ein alter Mann schlurft herein. Vornübergebeugt setzt er langsam und in kleinen Schritten einen Fuß vor den anderen. Neben einem freien Tisch schält er sich mühsam aus seinem langen grauen Mantel. Er lässt sich nieder und bestellt einen Kaffee. Bedächtig schaut er sich um. Bald kommt sein Bekannter, ein Mann um die Fünfzig, der viel redet und sich eine Kanne Tee kommen lässt.
Der alte Mann zeigt ihm ein Thermometer, das er sich gerade gekauft hat. Der Begleiter nimmt es, zieht es aus der Plastikhülle, wendet es. Dann taucht er es in seine Teekanne. Er will prüfen, ob es das Thermometer zerreißt. Das Thermometer zerreißt es. Der alte Mann schaut betroffen.
Der jüngere Mann ruft die Kellnerin und erklärt ihr die Lage. „Mir ist da was passiert. Ich wollte das Thermometer hochjagen und habe es in den Tee getunkt. Schütten Sie ihn am besten sofort weg. Denn da ist Quecksilber drin, und das ist giftig. Die Kanne schmeißen Sie am besten auch gleich weg. Und mir bringen’s bitte einen neuen Tee.“ Die Kellnerin nimmt die Kanne, geht ohne Wort weg, unbeeindruckt.
Der alte Mann bricht auf. Sein Begleiter hilft ihm in den Mantel. „Sie hatten doch mal so einen schönen Pelzmantel“, sagt er zum alten Mann. „Wo haben’s den?“ Der ist kaputtgegangen.
Der alte Mann schlurft raus. Ohne Pelzmantel, ohne Thermometer.



Cafe Moskva, Helsinki, ein Uhr nachts.

In Finnland ist es manchmal seltsam. Das zeigt Aki Kaurismäki in seinen Filmen ja auch (übrigens ist einer seiner wundervollen Schauspieler, der aus „Der Mann ohne Vergangenheit“, gerade erst 51-jährig gestorben).
Der erste Finne, den ich vor Jahren kennengelernt habe, hat mir erzählt: „Wir Finnen reden nicht viel. Wenn wir zusammenkommen, sitzen wir da, schweigen und trinken. Und dann fangen wir an zu weinen.“
Und dann ist da noch dieses geduldige Warten. Die Leute stehen in der Nacht an der Straße und warten auf ein Taxi. Dabei bilden sie eine geordnete Schlange, das ist das Seltsame daran. Zuvor kann es im Cafe Moskva – wo zwei Frauen und ein Mann am Tisch sitzen, trinken und die anderen Gäste betrachten – zu solchen Gesprächen kommen:
Sie: Die hat Tiger auf ihrem Leiberl.
Er: Ja. Die hat Tiger auf dem Leiberl.
Sie: Sag ich ja.
Er: Eh.
Sie: Aber ich hab’s zuerst gesagt.
Er: Ja eh.
Sie 2 schaltet sich ein: Ich find Tiger super.