Freitag, 11. April 2008

Philosophie zum Bier

Philosophie ist für einen Muslim nichts gutes, befand einst ein islamischer Gelehrter. Kein Wunder, dass sich auf diesem Gebiet in den letzten paar hundert Jahren mehr in Europa getan hat als im islamischen Raum. Mein neuer Bekannter U., der mir das erklärt, wirft gleich ein paar Namen dazu: Descartes, Hobbes oder Kant etwa. Wir sitzen bei einem Bier in der menschenumtosten Nevizade-Straße und sind vom Kellner schon zweimal umgesetzt worden, weil in dem winzigen Schanigarten Platz für eine größere Gruppe zu schaffen war.
U. ist ein entzückender junger Mann, der Philosophie studiert hat, sich jetzt aber mehr mit Wirtschaft beschäftigt, als Sportjournalist arbeitet und seine Freizeit – im Normalfall – gern mit seinen Eltern sowie Geschwistern verbringt. Sein Studium habe ihn von der Religion entfernt, sagt er. Er sei zwar weiterhin Muslim, aber kein strenger, fast schon an der Grenze zum Atheismus. „Muslim ja, aber…“ ist im übrigen in der Türkei immer wieder zu hören, vor allem in den Städten, wo nicht nur Arm und Reich aufeinanderprallen sondern auch verschiedene Volksgruppen mit ihren Kulturen, Jugendliche aber gleichzeitig den Stars in den Musikvideos mehr abschauen als traditionelleren Vorbildern. U. ist ein hübsches Beispiel für die Durchmischung in dem Land. Sein Vater ist Kurde, seine Mutter kommt aus Aserbaidschan. Doch selbst er sagt voller Überzeugung: „Von Minderheiten in der Türkei zu sprechen ist Blödsinn. Wir sind doch alle Türken.“ Diese Ein-Staat-ein-Volk-Ideologie wird den Kindern ab ihrem ersten Schuljahr vermittelt. Sie soll das Einigende in einem Land sein, das auf der Suche nach seiner Identität seit 80 Jahren zwischen Ost und West schwankt; das sich die – keinesfalls von allen gewünschte – „Verwestlichung“ auf die Fahnen geschrieben hat. Sie ist eine Philosophierichtung für sich.

Keine Kommentare: