Donnerstag, 1. Mai 2008

Mit Gasmasken zur Arbeit

Am 1. Mai nehmen Kameraleute und Pressefotografen Gasmasken mit zur Arbeit. Denn da gibt’s in Istanbul Wickel. Demonstrationen auf dem zentralen Taksim-Platz sind verboten. 1977 wurden dort bei der Mai-Kundgebung 35 Menschen getötet, durch Schüsse aus einem der umliegenden Hotels und zu Tode getrampelt in der danach entstandenen Panik. Drei Jahre später, nach einem Militärcoup, wurde der 1. Mai als Feiertag abgeschafft. Das Tauziehen zwischen den Gewerkschaften und der Regierung um den 1. Mai währt seit damals; der Kampf um den Taksim-Platz hat sich in den vergangenen Jahren verschärft.
Die Gewerkschaften haben angekündigt, trotz Verbot mit hunderttausenden Menschen zum Taksim-Platz zu ziehen. 30.000 Polizisten stehen dort bereit. Der sonst verkehrsumtoste Platz, zu dem sechsspurige Straßen führen, ist abgeriegelt; keine Autos, keine Menschen werden durchgelassen. In Autobussen und teils in Flugzeugen wurden die Polizisten dort hingekarrt. Sie tragen Helme und panzerartige Westen, die Gasmasken und Gummiknüppel halten sie bereit. Auf der Istiklal Caddesi, wo sonst von Taksim aus ein Meer an Köpfen zu sehen ist, haben sie mehrere Blockaden aufgebaut. In den Kaffeehäusern und Kiosken sind die Rollos runtergelassen. Die Tischchen vor den Lokalen sind verschwunden. Polizeihubschrauber kreisen über der Stadt.
Obwohl die Gewerkschaften am späten Vormittag – nachdem die Polizei eine Demonstration in einem anderen Stadtteil mit Tränengas und Wasserwerfern aufgelöst hat – ihren Plan aufgeben, zum Taksim-Platz zu ziehen, versuchen einzelne Gruppen durchzudringen. In einer der engen Gassen, die zur Istiklal führen, formieren sie sich. Es sind großteils junge Menschen. Knapp vor der Istiklal entrollen sie ein rotes Transparent und beginnen zu skandieren. Ein paar Jugendliche auf der Istiklal applaudieren. Einer hebt einen Stein vom Boden auf, zerschlägt ihn in zwei Hälften, steckt sie in die Hosentaschen. Sekunden später – die Gruppe ist auf der Istiklal angelangt – fliegen Flaschen und Steine auf die umliegenden Gebäude, der nächstgelegene Polizeitrupp hat sich in Bewegung gesetzt, ich spüre das Tränengas. Mit einem Fotografen ducke ich mich in einem Hauseingang. Die Bewohner lugen hinter der verschlossenen Haustür hervor. Auf einmal rennt ein Grüppchen von Menschen an uns vorbei, einige flüchten in das danebengelegene Kaffeehaus. Die Gäste dort lassen die Tür offen, damit die Menschen reinkönnen. Doch dahinter rollen schon die Polizisten heran. Sie rauschen an uns vorbei, und ich frage mich, ob ich auch Prügel abbekomme, weil die Gummiknüppel völlig wahllos zuschlagen. Einige Polizisten stürmen in das Kaffee, treiben die Menschen auf die Straße, packen einige am Kragen, schlagen um sich. Ein Mann, dem das Blut über die Stirn rinnt, stolpert, kniet auf dem Boden. Ein Polizist drischt weiter mehrmals auf ihn ein, auf die Brust, den Rücken. Eine junge Frau schreit und weint; ein Kameramann läuft zu ihr hin, um eine Großaufnahme von ihrem Gesicht zu machen. Sie wendet sich ab, schreit ihn an. Mehrmals hebt das Gebrüll der Polizisten und Demonstranten an, schwillt wieder ab. Mehrmals laufen noch Menschengruppen hustend und mit verschwollenen Gesichtern durch die Gassen vor den Tränengas-Schwaden davon.
Am späten Nachmittag erst ziehen die Demonstranten und Polizisten ab und die Flanierenden in die Istiklal wieder ein. Am Abend ist die gläserne Front von Benetton, die Steine fast zertrümmert hätten, wieder repariert. Die Polizei soll an diesem Tag 1700 Tränengasbomben verbraucht haben.

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