Sonntag, 18. Mai 2008

Auf dem Heimweg

Gedränge auf der Fähre nach Kadiköy. Es ist halb sieben abends, ein Wochentag, die Menschen fahren von der Arbeit heim, auf die asiatische Seite. Die langen Holzbänke auf dem offenen Oberdeck sind bis auf den letzten Platz gefüllt. Die meisten Reisenden sind ermüdet, sie haben vielleicht noch einen langen Weg vor sich. In Kadiköy besteigen sie einen der Busse oder Minibusse und fahren noch eine Dreiviertelstunde in eine der Hochhaussiedlungen, die auf den Hügeln südlich des Bosporus eilig hochgezogen wurden. Dort ist es ruhiger als auf der europäischen Seite, weniger gedrängt, grüner. Dort haben sich auch mehr Migranten aus Ostanatolien angesiedelt, haben ihre vom Patriarchat geprägten Strukturen mitgebracht und ihre Kopftuch tragenden Frauen nachgeholt. Doch finden sich dort auch schicke Viertel wie Kadiköy selbst, mit seinen zahlreichen Lokalen, eleganten Einkaufsstraßen und dem am Mittelmeer gelegenen Park, in dem sich im Schatten der Nacht Liebespaare küssen.
Für die Menschen auf der Fähre ist die Überquerung des Bosporus der tägliche Weg, in die Arbeit und dann wieder nach Hause. Was sie dabei sehen, übt für die meisten keine Faszination mehr aus. Gleichgültig gleitet das Auge an der Silhouette Istanbuls vorbei, am Stadtteil Beyoglu mit dem markanten Galata-Turm, an der Landesspitze mit dem weitläufigen Topkapi-Palast, hinter dem sich Hagia Sophia und Sultanahmet-Moschee erheben, an den Tankern, die auf die Überfahrt warten.
Die Stadt hat so viele nicht wegen ihrer Sehenswürdigkeiten angezogen, sondern wegen der Arbeitsmöglichkeiten. Die Banken, die Unternehmen, die ausländischen Vertretungen haben ihren Sitz in Istanbul. Menschen, die ihr Geld in Lokalen ausgeben wollen, brauchen Kellner, Köche und Sänger. Die haben in der Woche nur selten mehr als einen freien Tag, und ein Arbeitstag hat leicht 12 Stunden. Das Mindestgehalt in der Türkei beträgt an die 230 Euro, davon ist eine Wohnung in Istanbul kaum zu haben. Die Menschen weichen auf die asiatische Seite aus, wo die Unterkünfte billiger sind. In den noblen Vierteln auf der europäischen Seite kostet allein die Miete im Monat so viel wie ein kurdischer Muschelverkäufer in einem halben Jahr verdient. Bis spät in die Nacht steht der Mann a einem Straßeneck an der Istiklal Caddesi, bietet dem durch die Lokale ziehenden jungen Publikum die mit einer Reispaste gefüllten Muscheln an. Wenn ein Grüppchen stehen bleibt, sucht er ein paar Muscheln aus, öffnet sie, beträufelt sie mit Zitrone, reicht eine nach der anderen seinen Kunden, die gleich essen, zahlen und ins nächste Beisl gehen. Erst um drei, vielleicht vier Uhr nachts räumt der Verkäufer zusammen, nimmt das riesige Blechtablett vom hölzernen Ständer, klappt diesen zusammen, klemmt ihn unter den Arm und macht sich auf seinen Heimweg.

Keine Kommentare: