Sonntag, 18. Mai 2008

Ein Sonntag am Fluss

Das Büfe gegenüber, der Kiosk, wo es neben Zeitungen und Zigaretten auch Käse, Milch und Süßigkeiten zu kaufen gibt, kennt keinen Ruhetag. Ob Montag oder Samstag: Bis in die Morgenstunden steht der Besitzer hinter der Theke und manchmal vor der Tür. Auch der weißbärtige Schuhputzer ums Eck sitzt jeden Tag auf seinem wackeligen Schemel und poliert seinen Kunden die Schuhe. Dennoch scheint sich das Tempo in Beyoglu an einem Sonntag zu verlangsamen. Die Frisörläden füllen sich mit Männern, die sich um einen Euro rasieren lassen. Die nassen Handtücher trocknen auf Wäscheständern auf dem Gehsteig. Der Duft von Rasierwasser vermischt sich mit dem Gestank des Mülls, der unter den Hauseingang eines verlassenen Gebäudes gekehrt wurde. Vor den Teehäusern sitzen 50-Jährige auf Kindersesseln (wie A. die niedrigen Hocker nennt) und lesen die Sonntagszeitung. Auf der Istiklal Caddesi flanieren händchenhaltende Pärchen und laut lachende Teenager.
Ein guter Tag, um an den Bosporus zu gehen, dachte ich mir. Ein Spaziergang am Ufer entlang, ein wenig Grün, Vogelgezwischer und so weiter. Das war der Plan. Den hatte allerdings nicht nur ich gefasst. Hunderttausende Menschen zieht es am Wochenende an den Bosporus. Die Energie, die die laute pulsierende Stadt raubt, gibt der Fluss wieder zurück. Familien packen ihre Picknickkörbe und machen eine Bosporus-Fahrt oder steigen ins Auto und suchen ein Plätzchen, um den Grill aufzustellen. Oder sie marschieren zu den paar Stellen, die den Blick auf den Fluss freigeben. Denn eine längere Uferpromenade gibt es zwischen Besiktas und Ortaköy auf der europäischen Seite nicht. So dränge ich mich mit all den tausenden anderen Menschen auf den Gehsteigen links und rechts der vierspurigen Straße, auf der die Autos im Stau stecken und hupen. Auf der einen Seite eine meterhohe Betonwand, hinter der sich Paläste verstecken. Auf der anderen Seite eingezäunte Grünflächen, die sich den Hügel rauf ziehen und militärisches Sperrgebiet oder versperrtes Universitätsgelände sind. Auf dem Gehsteig ein Hürdenlauf: den spärlich gesetzten Bäumen und Entgegenkommenden ausweichen, die Langsam-Spaziergeher überholen. Eine Stunde geht es so dahin, denn auch auf den Gehsteigen bildet sich Stau.
Endlich kommt Ortaköy, der kleine Stadtteil rund um die barocke Moschee, der sich im Schatten der Hängebrücke über den Bosporus duckt. Auf der Piazza vor der Fähranlegestelle scheuchen die vorbeiziehenden Menschen die Tauben auf. Die Eintreiber vor den zahlreichen Lokalen preisen die Terrassen an, die in den engen Häusern über steile Treppen zu erklimmen sind. Und dann sitzt du dort und beobachtest, wie Yachten, Ausflugsboote, Containerschiffe und Tanker ihre in der untergehenden Sonne schimmernden Spuren durch den Bosporus ziehen. Auf der gegenüberliegenden asiatischen Seite gehen die ersten Lichter an. Die Dämmerung sinkt auf die Stadt. Und in der Nacht verwandelt sich Istanbul in ein blinkendes Lichtermeer, das durch die dunkle Schleife des Bosporus geteilt wird. Die Hängebrücke, die Europa und Asien verbindet, erstrahlt in Dutzenden Farben: Die Lampen wechseln von Rot zu Grün, zu Blau, zu Violett. Wie eine Perlenkette mit unzähligen senkrecht fallenden Schnüren schwebt das beleuchtete Brückengeländer über dem Fluss.

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