Montag, 26. Mai 2008

Aus der Provinz

Auf der einen Seite das Schwarze Meer, auf der anderen die Ausläufer des Pontischen Gebirges: In einem Halbrund erstreckt sich die nordtürkische Hafenstadt Trabzon mit ihren rund 200.000 Einwohnern. Mehrstöckige moderne Apartmenthäuser schmiegen sich aneinander und die Hänge empor. Tiefer gelegen ist die Altstadt; sie ist vom Terrassencafe im sechsten Stock eines gläsernen Bürogebäudes am Atatürk-Platz ebenso zu sehen wie schneebedeckte Berggipfel in der Ferne.
Trabzon versprüht den Charme einer Provinzhauptstadt. Einige alte Häuser sind renoviert und herausgeputzt. Die Ayasofya mit ihren Fresken und dem angeblich einzigen auf türkischem Boden verbliebenen byzantinischen Kirchenturm liegt in einem gepflegten Garten. Im Park sitzen Männer vor Teehäusern auf Plastiksesseln; in der Fußgängerzone flanieren junge Mädchen mit auf die Kleidung farblich abgestimmten Kopftüchern. Nach dem Unterricht schlendern 14-jährige in ihren Schuluniformen durch die Straßen; Laufburschen aus den Restaurants tragen auf Tabletts Teller mit Essen in danebenliegende Geschäfte.
Und dann gibt es noch die Billigabsteigen in Hafennähe, die vorwiegend als Stundenhotels genutzt werden. Etliche Frauen aus Russland und anderen Ex-Sowjetrepubliken arbeiten hier als Prostituierte. Um fünf in der Früh gehen sie müde heim, kaufen noch schnell im Kiosk ums Eck Zigaretten und wechseln ein paar Sätze auf Türkisch mit dem Verkäufer.
Unter den historischen Brücken, in den Gräben zwischen den alten Stadtmauern ducken sich ärmliche Viertel, die teilweise schon großzügig angelegten Parkanlagen weichen mussten. Kinder in abgetragenen Kleidern spielen auf Schotterhaufen zwischen den verfallenden Häusern, über deren flachen Dächern Wäscheleinen gespannt sind. S. wird mir später entrüstet erklären, dass die Menschen dort teilweise nicht einmal türkisch können, sondern nur kurdisch.
Keiner der Studenten, die ich kennenlerne, mag Trabzon. Warum aber, können sie mir nicht so recht erklären. Es hat sie aus Gaziantep, Ankara oder Adana an die Karadeniz Technische Universität verschlagen. Sie sind entweder hier, weil einige Fakultäten der Hochschule – wo an die 45.000 Studenten inskribiert sind – einen guten Ruf genießen oder weil die Punktezahl bei der Aufnahmeprüfung nicht für eine andere Universität gereicht hat. S., eine hübsche quirlige Mathematik-Studentin, die oft und laut lacht, warnt mich vor den Männern in Trabzon. Die in kleinen Grüppchen Herumziehenden und in die Gegend Stierenden nennt sie Haie. M. wiederum, der Maschinenbau studiert, findet, die Stadt sei vor allem eines: fad.
Auf dem Balkon aber sitzen die Studenten gern. So nennen sie die halbrunden betonierten Flächen im Park auf dem Campusgelände. Als wir zu sechst nach einem Open-Air-Konzert vor der Universität dorthin kommen, ist es nach Mitternacht. Von dem kleinen Hang aus beobachten wir die letzten Flugzeuge, die auf der Landebahn gegenüber dem Campus aufsetzen. Hinter den Lichterketten des Flughafens ist die Dunkelheit des Meeres. S. stimmt ein türkisches Lied an, die anderen schließen sich an. Es folgen die nächsten schwermütigen Weisen. Wieder einmal handeln die meisten von Liebe.

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