Sonntag, 18. Mai 2008

Das 'hüzün'-Gefühl

Ob ich es auch spüre? Mit B., dem der Esoterik nahe stehenden Klarinettisten, sitze ich in einem der Lokale rund um Tünel, der den Abschluss der Istiklal Caddesi bildet. Diese Gegend habe ungeheuer viel Energie, erklärt mir B. Hier tue sich auch sehr viel. (Das habe ich nach einem nicht unbedingt an Schlaf reichen Monat im Kneipenviertel von Beyoglu auch schon bemerkt.) Seit tausenden von Jahren wollten die Menschen sich hier ansiedeln, kämpften miteinander um den Platz. Hier haben die Europäer ihre Häuser gebaut, die Griechen ihre Kirchen errichtet, die Juden und Armenier ihre Geschäfte eröffnet. Damit können die meisten türkischen Einwanderer von heute – und es sind derer so viele, dass ein Istanbuler Politiker einmal halb im Scherz laut über Visa für die Stadt nachgedacht hat – nichts anfangen, meint B. Sie spüren es nicht.
Es ist aber auch viel verlorengegangen. Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches, im Zuge des wachsenden und geschürten türkischen Nationalbewusstseins, nach den Vertreibungen vieler Griechen hat auch Istanbul einiges an kultureller Vielfalt eingebüßt. Die Kirchen werden kaum gepflegt; die Häuser, in die arme Familien aus dem Osten eingezogen sind, verfallen. Und noch etwas bedauert B.: den Verlust für die Literatur durch die Umstellung auf das lateinische Alphabet (für die ich persönlich Atatürk äußerst dankbar bin). Die alte Sprachmelodie lasse sich nicht so einfach übertragen; viele osmanische Werke seien gar nicht ins Türkische übersetzt worden. „Im Westen habt ihr eine Kontinuität, eine Entwicklung in der Literaturgeschichte“, sagt B. „Bei uns hat es einen Bruch gegeben. Wir haben keinen Dostojewski, und Schriftsteller wie Pamuk gibt es erst seit einigen Jahren. Unsere jetzige Literatur blickt gerade einmal auf 70 Jahre zurück.“
Da ist es wieder, dieses „hüzün“-Gefühl. Die Melancholie, die auch Orhan Pamuk beschreibt, verspüren nicht nur ältere sondern auch 28-jährige Istanbuler wie B. Es ist diese leise Trauer ob des Verlustes eines prächtigen Reiches, einer wie verzauberten Stadt, die mittlerweile zu einer Metropole mit vielleicht 20 Millionen Einwohnern angeschwollen ist. Es ist das Bedauern darüber, dass der frühere Glanz für immer verlorengegangen ist, dass der alte Charme nicht mehr zu finden ist und stattdessen die Vernachlässigung überall sichtbar wird.
Das könnten Wiener genauso gut verspüren, wenn sie die kaiserlichen Bauten am Ring betrachten. Oder die Warschauer, die ihre Stadt nach 1945 komplett neu aufbauen mussten. Wie so viele andere Orte in Europa wurden diese beiden Städte nach den Morden und Vertreibungen im Zweiten Weltkrieg nie wieder so wie früher.
Dennoch scheint das „hüzün“-Gefühl sich am Bosporus besser entfalten zu können. Es gehört zum „Echter-Istanbuler“-Sein dazu.

Keine Kommentare: